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Auf der Suche nach der Essenz der Schönheit /Searching the Essence of Beauty

Wenn man sich auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen in der zeitgenössischen Photographie macht, kommt man an ihr nicht vorbei. Peter Truschner, der nicht so leicht zu beeindrucken ist, hat in seinem Fotolot ihre Ausstellungen in Hamburg und Berlin besprochen. Da ich in letzter Zeit weder nach Hamburg noch nach Berlin gekommen bin, war ich sehr froh, als mir die Einladung zu der Vernissage ihrer Ausstellung im Stadthaus Ulm  ins Haus flatterte. Da konnte ich zwar nicht hin, aber da in dem Heim bei Ulm, in dem meine Schwester seit fünfzig Jahren wohnt, neulich Sommerfest war, habe ich die Gelegenheit ergriffen, mir die Ausstellung anzuschauen.

Eigentlich braucht man hier so gut wie keinen Kontext, um die Bilder schön, beeindruckend oder gar außerordentlich zu finden, denn Sie sprechen für sich selbst. Sie sprechen eine Sprache, die wir allerdings nicht gewohnt sind, verstandesmäßig zu entschlüsseln. Für diejenigen denen das wichtig ist, hier erst mal ein paar Hintergrundinfos.

Kathrin Linkersdorff wurde 1966 in Ost-Berlin geboren, Sie studierte Architektur und ist seit den Neunziger Jahren immer wieder in Japan, wo sie sich mit Tuschzeichnen und den dortigen Vorstellungen von Ästhetik, wie das inzwischen auch in den Westen diffundierte Konzept des Wabi-Sabi beschäftigt. Dazu gehört unter anderem das Anerkennen des unvermeidlichen Wandels, der letztlich auch den Schmerz der Vergänglichkeit hervorruft, sowie der Versuch, die Schönheit des Unvollkommenen sichtbar zu machen.

In der Arbeit von Linkersdorff zeigt sich dies in der Beschäftigung mit den Metamorphosen, denen z. B. Tulpenblüten beim Verwelken und Vertrocknen ausgesetzt sind. Aber Linkersdorf geht noch einen Schritt weiter und läßt uns miterleben, was passiert, wenn man das im Prozess Verlorene (z.B. die Farbe der Blütenblätter) nachträglich wieder ins Spiel bringt und somit etwas völlig Neues entstehen lässt.

In Ulm kann man den Prozess, den Kathrin Linkersdorff zu dieser Art von Photographie geführt hat, gut nachvollziehen. In der Serie Wabi-Sabi (2013-18) hat sie Naturmaterialien im Prozess ihres Verfalls an dem Punkt festgehalten, an dem man die ursprüngliche Schönheit noch ahnen kann und der Prozess Form und Farbe noch nicht ganz verändert hat.

When searching for new forms of expression in contemporary photography, there is no getting around him. Peter Truschner, who is not easily impressed, reviewed her exhibitions in Hamburg and Berlin in his Fotolot. Since I haven’t been to Hamburg or Berlin lately, I was very happy when I received an invitation to the opening of her exhibition at the Stadthaus Ulm. I couldn’t make it to the opening, but since the home near Ulm where my sister has lived for fifty years recently held a summer party, I took the opportunity to view the exhibition.

 

Actually, you don’t need much context to find the pictures beautiful, impressive, or even extraordinary, because they speak for themselves. They speak a language that we are not used to deciphering intellectually. For those who find this important, here is some background information.

 

Kathrin Linkersdorff was born in East Berlin in 1966. She studied architecture and has been visiting Japan regularly since the 1990s, where she has been exploring ink drawing and local concepts of aesthetics, such as the concept of wabi-sabi, which has now also spread to the West. This includes, among other things, acknowledging the inevitability of change, which ultimately also causes the pain of transience, as well as attempting to reveal the beauty of imperfection.

 

In Linkersdorff’s work, this is reflected in her preoccupation with the metamorphoses that tulip blossoms undergo as they wilt and dry out. But Linkersdorf goes one step further and lets us witness what happens when what is lost in the process (e.g., the colour of the petals) is brought back into play retrospectively, thus creating something completely new.

In Ulm, one can clearly see the process that led Kathrin Linkersdorff to this type of photography. In the series Wabi-Sabi (2013-18), she captured natural materials in the process of decay at the point where one can still sense their original beauty and the process has not yet completely changed their form and colour.

In der Serie „Floriszenen“ (2019) zeigt sie Tulpenblüten, die im Trocknungsprozess ihre Form schon derart verändert haben, dass sie nicht mehr an dem gemessen werden müssen, was sie vorher waren. Hier beginnt sie auch, die Blütenblätter zu rehydrieren und die Farbpigmente wieder hinzuzufügen, die sie im Prozess verloren haben. Dies setzt sich in der Serie „Faries“ (2020) fort, in der die getrockneten Blütenblätterskelette einen Tanz mit den Tropfen- und Wolkenförmig aufsteigenden Farbpigmenten vollführen, der in den Bildern und vor allem in dem Video, das auch in der Ausstellung zu sehen ist, sehr deutlich wird. Ob das im Titel angedeutete Interpretationsangebot, diese Bilder als Veranschaulichung von Naturgeistern zu lesen, sinnvoll ist, wird wohl von Betrachter zu Betrachterin unterschiedlich sein.

In the series “Floriszenen” (2019), she shows tulip blossoms that have changed their shape so much during the drying process that they no longer need to be measured against what they were before. Here, she also begins to rehydrate the petals and add back the colour pigments they lost in the process. This continues in the series “Faries” (2020), in which the dried petal skeletons perform a dance with the drops and cloud-like rising colour pigments, which is very clear in the pictures and especially in the video, which can also be seen in the exhibition. Whether the interpretation suggested in the title, reading these images as an illustration of nature spirits, makes sense will probably vary from viewer to viewer.

Die Serie „Microverse“ (2023ff) knüpft daran an, bringt aber völlig neue Akteure ins Spiel. Linkersdorff lässt einfache Bodenbakterien ihre Arbeit erledigen. Sie hat entdeckt, dass diese Bakterien, wenn sie auf den getrockneten Blättern angesiedelt und entsprechend genährt werden, Farbpigmente produzieren, die den Blütenblättern auf ihre Art neues Leben einhauchen.

The series “Microverse” (2023ff) builds on this, but brings completely new players into the game. Linkersdorff lets simple soil bacteria do her work. She has discovered that when these bacteria settle on dried leaves and are fed appropriately, they produce colour pigments that breathe new life into the petals in their own way.

Weitere Erläuterungen der Künstlerin zu ihren Bildern kann man in dem YouTube-Video entdecken, das bei der Eröffnung der Ausstellung entstanden ist.

Aber wie gesagt, genießen kann man die Bilder auch völlig ohne Hintergrund, einfach anschauen und staunen, was in diesen Prozessen alles deutlich wird. Scheinbar steckt da ja auch ein Widerspruch drin. Photographie ist eigentlich kein Prozeßdokumentationswerkzeug, es werden immer nur Zwischenschritte festgehalten. Aber wenn das Auge einer Künstlerin diese Momentaufnahmen aussucht und präsentiert, dann schafft es unsere Phantasie den Rest hinzuzufügen

Further explanations by the artist about her pictures can be found in the YouTube video (in german) that was created at the opening of the exhibition.
But as I said, you can also enjoy the pictures without any background knowledge, simply looking at them and marvelling at what becomes clear in these processes. There seems to be a contradiction here. Photography is not actually a tool for documenting processes; it only ever captures intermediate steps. But when an artist’s eye selects and presents these momentary steps, our imagination manages to add the rest.

4 Comments

  1. Harald Spies

    Frau Linkesrdorf (die ich leider nicht kannte – danke für den Artikel!) zeigt eindrücklich, dass eben doch noch nicht alles photographiert worden ist.

  2. Jana

    Lieber Rolf, vielen Dank für den Blogartikel und den Hinweis zur Ausstellung.
    Die Fotografien in der Ausstellung von Linkersdorff sind zweifellos sorgfältig gestaltet, technisch brillant und sind wunderbare Arbeiten.

    ABER: Dennoch habe ich Schwierigkeiten mit der gewählten Überschrift ‘Wabi-Sabi’. In meinem Verständnis – und auch in der japanischen Ästhetik selbst – steht Wabi-Sabi für eine sehr zurückhaltende, unspektakuläre Wahrnehmung von Vergänglichkeit, Leere, Reduktion und asymmetrischer Schönheit. Die hier gezeigten Bilder sind für mich eher westlich-barock geprägt, mit dramatischem Licht, klarer Formensprache und starker Präsenz. Ich sehe darin eher eine Inszenierung von Schönheit im Verfall, aber nicht die stille, subtile Haltung, die dem Konzept Wabi-Sabi innewohnt.

    • Rolf Noe

      Hallo Jana, Du hast völlig recht, dass die aktuellen Bilder von Kathrin Linkersdorff dem Prinzip oder Ideal nicht mehr entsprechen. Der Titel Wabi-Sabi bezieht sich auch nur auf die erste, älteste Serie, die sie in Ulm zeigt (Die sechs Bilder in Reihe, die nicht sehr gut zu erkennen sind). Alle späteren Serien sind weiterentwickelte Formen, die sich aber von der anfänglichen Idee wieder deutlich entfernen und eigene ganz eigne Ästhetik entwickeln.

  3. Dirk

    Vielen Dank für diesen faszinierenden Einblick! Linkersdorffs Arbeiten klingen ebenso poetisch wie konsequent gedacht. Besonders die Verbindung von Vergänglichkeit, Formauflösung und bewusster Re-Interpretation finde ich beeindruckend. Schade, dass ich die Ausstellung nicht selbst sehen konnte aber deine Beschreibung macht neugierig auf mehr.

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