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Bebilderter Humanismus / Illustrated humanism

Während sich der Rest der Photowelt in Arles rumtrieb, habe ich mich für einen tiefen Tauchgang in die Geschichte der photographischen Ausstellungen entschieden. In Clervaux im schönen Norden Luxemburgs kann man sich die legendäre, inzwischen von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Ausstellung „The Family of Man“ immer noch anschauen.

Die Ausstellung wurde, offenbar unter dem Eindruck der Gräuel des Zweiten Weltkriegs, von Edward Steichen zusammengestellt und 1955 zum ersten Mal im MoMa in New York gezeigt. Daraufhin wanderte sie durch die Welt und wurde von mehr als 10 Millionen Menschen gesehen. Seit den sechziger Jahren hat sie dann im Schoss von Clervaux in Luxemburg, dem Geburtsland Steichens einen festen Platz gefunden.

Man bekommt die originalen nicht gerahmten Schwarzweißbilder unterschiedlicher Formate in einer 35 Kapitel umfassenden, die ursprüngliche Abfolge berücksichtigenden Tour präsentiert. Die Bilder werden begleitet von Texten, meist Zitaten und nicht selten Zitaten aus der Bibel. Man sieht etwa 500 Bilder von 273 Photographen, die alle Menschen zum Thema haben. Die Namen der Photographen und ihrer Agenturen sind ganz klein am unteren Bildrand vermerkt aber es fehlen, und wir werden sehen, dass das zum Konzept der Ausstellung gehört, Orts- und Zeitangaben.

While the rest of the photography world was hanging out in Arles, I decided to take a deep dive into the history of photographic exhibitions. In Clervaux in the beautiful north of Luxembourg, you can still see the legendary exhibition “The Family of Man”, which has since been declared a UNESCO World Heritage Site.


The exhibition was put together by Edward Steichen, apparently under the impression of the horrors of the Second World War, and was shown for the first time in 1955 at the MoMa in New York. It then travelled the world and was seen by more than 10 million people. Since the 1960s, it has found a permanent home in Clervaux in Luxembourg, the country of Steichen’s birth.


The original unframed black-and-white pictures in various formats are presented in a 35-chapter tour that follows the original sequence. The pictures are accompanied by texts, mostly quotations and often quotes from the Bible. There are around 500 pictures by 273 photographers, all of which have people as their subject. The names of the photographers and their agencies are noted in very small letters at the bottom of the pictures but, as we will see, this is part of the concept of the exhibition, there is no indication of place and time.

Das so erfolgreiche Programm der Ausstellung wir gleich im ersten Zitat verdeutlicht, das von Carl Sandburg, einem Freund Steichens stammt:

„Es gibt nur einen Mann auf dieser Welt und sein Name ist Alle Männer. Es gibt nur eine Frau auf dieser Welt, und ihr Name ist Alle Frauen. Es gibt nur ein Kind auf der Welt, und sein Name ist Alle Kinder.“

Und dann geht es los, vom Urknall bis zur Wasserstoffbombe, von der Geburt bis zum Tod, vom Spiel bis zur Einsamkeit, vom Brot bis zur Bildung, vom Tanz bis zum Hunger versucht die Ausstellung alle menschlichen Themen anzusprechen. Der Duktus der Photographien folgt unabhängig davon, ob sie von professionellen Bildreportern oder Hobby-Photographen stammen dem was im Rückblick als humanistische Photographie bezeichnet wurde. Viele Bilder kommen einem bekannt vor oder sind noch heute bekannt, weil sie in der großen Zeit der Printmedien z.B. die Titel der bekannten Magazine geschmückt haben. Ein weiteres Gemeinsames der Bilder ist folglich auch die dokumentarische Haltung, nichts ist inszeniert, alles `aus dem Leben gegriffen´. Es wird anscheinend auch nichts Menschliches verschwiegen, man sieht verstörte und hungernde Kinder, Liebespaare sich umarmend (aber keinen Sex – wir sind in den fünfziger Jahren), man sieht Leichen im Schützengraben (aber nichts wirklich schockierendes – Reportagebilder eben). Man sieht Menschen aus aller Welt (aber in der Summe doch deutlich mehr Weiße als Farbige) und wenn man die Entstehung der Ausstellung anschaut, sind die Photographen für dieses Projekt eigentlich fast ausschließlich in Amerika und Europa rekrutiert worden.

The exhibition’s successful programme is illustrated in the very first quote, which comes from Carl Sandburg, a friend of Steichen:


“There is only one man in this world, and his name is All Men. There is only one woman in this world, and her name is All Women. There is only one child in the world, and his name is All Children.”


And then it starts, from the Big Bang to the hydrogen bomb, from birth to death, from play to loneliness, from bread to education, from dance to hunger, the exhibition attempts to address all human themes. The style of the photographs, regardless of whether they were taken by professional photojournalists or amateur photographers, follows what in retrospect was labelled humanistic photography. Many of the images seem familiar or are still familiar today because they adorned the covers of well-known magazines in the heyday of print media, for example. Another thing the pictures have in common is their documentary approach: nothing is staged, everything is ‘taken from life’. Apparently nothing human is concealed, you see distraught and starving children, lovers embracing (but no sex – we are in the 1950s), you see corpses in the trenches (but nothing really shocking – reportage pictures). You see people from all over the world (but in total significantly more white people than people of colour) and if you look at the genesis of the exhibition, the photographers for this project were actually recruited almost exclusively in America and Europe.

Ich möchte der Ausstellung in kleinster Weise Unrecht antun indem ich sie mit Kriterien messe, die heutzutage deutlich mehr Wichtigkeit haben als zur Zeit dieser Ausstellung, aber ich möchte die dahinter steckende Weltanschauung hinterfragen insofern als sie zumindest bisher auch mein Denken geprägt hat. Es ist die Ideologie des Humanismus mit ihren Kerngedanken der Menschenrechte, der Gleichberechtigung, des Individualismus und des Pazifismus.

Was als erste Frage auftaucht, ist, ob so ein Begriff wie `Menschheit´ oder die Idee des Menschen (Plato) oder der Mensch an sich (Kant) nicht eine unzulässige Verallgemeinerung ist, eine Leugnung der Diversität und eine Ignorierung der Erfahrungswelten der verschiedenen Menschen. Alle Menschen kennen den Tanz, aber in jeder Gemeinschaft wird anders getanzt und manch Einer tanzt gar nicht.

I would like to do the exhibition an injustice in the smallest way by measuring it against criteria that are much more important today than they were at the time of this exhibition, but I would like to question the world view behind it insofar as it has also shaped my thinking, at least so far. It is the ideology of humanism with its core ideas of human rights, equality, individualism and pacifism.


The first question that arises is whether a concept such as ‘humanity’ or the idea of man (Plato) or man in himself (Kant) is not an inadmissible generalisation, a denial of diversity and an ignoring of the worlds of experience of different people. Everyone knows the dance, but every community dances differently, and some people don’t dance at all.

Zweitens frage ich mich, ob der Blick, der von unserer doch noch recht jungen, letztlich westeuropäisch und infolgedessen eben auch amerikanisch geprägten Weltanschauung ausgeht und dann in die Welt ausschwärmt und bei andern Völkern und Gemeinschaften Entsprechungen sucht nicht an dem vorbeigeht, was außerhalb des westlichen Kulturkreises wirklich Sache ist.

Und dann taucht auch noch die Frage auf, ob die Betonung der individuellen Entfaltung und der `Freiheit´, die uns die Menschenrechte zugestehen wollen, nicht etwas ist, was den Gemeinsinn schwächt, indem das Trennende betont und das Verbindende vergessen wird. In der Ausstellung ist vor allem die Familie als den Einzelnen tragende Gemeinschaft berücksichtigt.  Das ist noch nie überall so gewesen und es ist heute auch hier viel bunter als der enge Familienbegriff glauben lassen will. Zusammenleben kann außerdem nur funktionieren, wenn neben den Rechten auch Pflichten nicht nur der eigenen Familie gegenüber bestehen bleiben.

Secondly, I ask myself whether the view that emanates from our still quite young, ultimately Western European and consequently also American-influenced world view and then swings out into the world and seeks equivalents among other peoples and communities does not miss what is really going on outside the Western cultural sphere.


And then the question also arises as to whether the emphasis on individual development and the ‘freedom’ that human rights want to grant us is not something that weakens the sense of community by emphasising what divides us and forgetting what unites us. The exhibition emphasises the family as a community that supports the individual. This has never been the case everywhere, and today it is much more colourful than the narrow concept of family would have us believe. Moreover, living together can only work if, in addition to rights, there are also duties not only towards one’s own family.

Schließlich möchte ich bezweifeln, dass das Verbindende zwischen den Menschen dadurch betont werden sollte, dass man Unterschiede nicht benennt. Das hat Steichen letztlich versucht, indem er auf Datierungen und Ortsangaben weggelassen hat. Das soll so eine Art universelle und überzeitliche Geltung suggerieren. Was ebenfalls benannt gehört, ist die Perspektive, aus der das Bild entstanden ist. Wir finden zwar in der Ausstellung unter der `Migrant Mother´ den Namen von Dorothea Lange, aber sonst nichts über die Auftragslage und Absicht, mit der das Bild gemacht, ausgesucht und veröffentlicht wurde.

Nichtsdestotrotz ist das eine phantastische Ausstellung mit wahrscheinlich dem Besten, was es an Photos von Menschen aus der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts gibt, zusammengestellt von einem der bekanntesten Kuratoren der Zeit. Clervaux ist also durchaus mal einen Abstecher wert.

After all, I doubt that the unifying factor between people should be emphasised by not naming differences. Steichen ultimately tried to do this by omitting dates and places. This is intended to suggest a kind of universal and timeless validity. What should also be mentioned is the perspective from which the picture was created. We find Dorothea Lange’s name in the exhibition under ‘Migrant Mother’, but nothing else about the commission and intention with which the picture was made, selected and published.


Nevertheless, this is a fantastic exhibition with probably the best photos of people from the first half of the 20th century, put together by one of the best-known curators of the time. Clervaux is definitely worth a visit.

Translated with the help of DeepL

3 Comments

  1. Ule Rolff

    “der Blick, der von unserer … westeuropäisch und infolgedessen eben auch amerikanisch geprägten Weltanschauung ausgeht … an dem vorbeigeht, was außerhalb des westlichen Kulturkreises wirklich Sache ist.”
    Tragischerweise wirde und wird diese westliche Ordnung als Allheilmittel für den Rest der Welt betrachtet – was zu einer wesentlichen Ursache der großen politischen Probleme von heute wird.
    Ja, deine Fragen an die Steichen-Ausstellung verstehe ich weniger als Fragen an Steichen, als an das Konzept der Ausstellung, das vielleicht auch anders, kritischer, relativierender … möglich gewesen wäre.

    • Rolf Noe

      Tatsächlich nehme ich die Ausstellung nur als Anlass Fragen an unser Selbstverständnis, als weiße Heilsbringer zu stellen und für interkulturellen Dialog zu plädieren. Wie schwierig dieser ist, zeigt nicht nur die letzte Documenta.
      Und er ist schwierig, weil die Einsicht in einer Tradition zu stehen, die seit einigen Jahrhunderten im Tausch gegen das eigene Heil, Unheil in die Welt gebracht hat, schmerzhaft ist…
      Steichen’s Ausstellung war damals wahrscheinlich richtig und gut und hat geholfen, die Wunden der beiden Kriege zu bandagieren, wenn auch nicht zu heilen.

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