Das Spiel damit, den Fluss der Bilder zu verlangsamen, indem man Eines rausgreift es betrachtet, seinen Gedanken und Gefühle beim Betrachten schriftlich festhält und mit den anderen zwei Betrachtern teilt, geht weiter. Beim ersten Durchgang weiß nur derjenige der das Bild ausgesucht hat aus welchem Zusammenhang es stammt. Em Ende wird der Kontext offengelegt und es gibt die Möglichkeit darauf noch einmal zu reagieren. Ich habe obiges Bild ausgesucht (die Quelle nenne ich weiter unten). Sehr schnell kam
Haralds Kommentar:
„Aus der Zeit, in der Männer noch Hüte trugen. Und Bücher lasen. Die Bibliothek mag hin sein, aber die Bücher sind heile! Das Interesse an der virtuellen Welt war wohl schon immer größer als an der realen. Sich abwenden vom grauslichen Geschehen und Eintauchen in die Bücherwelt.
Eine Bibliothek unter freiem Himmel, noch nie war das Licht hier so gut. Die eingestürzten und verkohlten Deckenbalken wirken wie eine moderne Skulptur. Die drei Herren schauen aber nur zu den Büchern. Sie scheinen keine Eile zu haben. Einer wählt mit Bedacht einen Band aus, ein anderer schmökert, der dritte liest interessiert die Titel, die rechte Hand in der Manteltasche. Ein surrealer Gedanke kommt mir: Vielleicht haben die drei das Feuer gar nicht bemerkt und sind einfach geblieben…
Die Meisterschaft, mit der dieser etwas absurde Moment eingefangen ist, könnte die Handschrift von Bresson sein.“
Etwas länger dauerte der
Kommentar von Michael:
„Das können nur Engländer sein und wenn ja, London in WW2“, so mein erster Gedanke. Eine Frage im Web und zwei Mausklicks weiter kam die Bestätigung. Sehr erstaunlich, was da alles in bester Qualität dokumentiert und archiviert wurde. Ich bin noch nicht eingetaucht in die Atmosphäre des Grauens, betrachte und analysiere noch alles aus der Ferne. Ich wehre mich noch, tiefer einzutauchen, meine Gefühle vom Zaum zu lassen.
Beim Betrachten und darauf einlassen komme ich näher und dann die Frage: Geht es den Männern nicht ähnlich? Sie wirken wie normale Besucher, die eine bestimmte Lektüre suchen. Blenden sie in diesem Moment nicht auch Gefühle wie Trauer, Leid und Ohnmacht aus? Oder liegt diese Phase, in der sie eigentlich nur heulend und verzweifelt zwischen den Trümmern des Infernos sitzen, bereits hinter ihnen?
Ich spüre, wie ich mich verbinde und gleichzeitig, wie ich mich vor allzu großer Nähe schütze.
Zahlreiche, beeindruckende Fotos von der unzerstörten Bibliothek (s.u.) formen einen Gedanken in mir: Nichts auf dieser Welt besteht unendlich lange. Alles, auch wenn es noch so wunderbar ist, löst sich auf. Entweder durch natürliche Zerfallskräfte oder der Mensch erledigt seine selbst geschaffenen Glanzleistungen und Schönheiten in rasender Geschwindigkeit selbst.
Kommentar Rolf:
Ich habe kürzlich ein Buch erstanden, dass die wichtigsten Bilder der Photographiegeschichte enthalten soll, aber anscheinend hat der Autor einen sehr eigenen Geschmack, so dass er zwar die richtigen Photographen, aber von denen immer die falschen Bilder ausgesucht hat. Deswegen habe ich lieber nochmal da Buch von David Campany „On Photographs“ zur Hand genommen und dieses Bild hat mich sofort gefesselt. Es ist fast schon eine Allegorie auf die Geisteshaltung in der Gutenberg-Galaxis. Egal wie die Welt aussieht, die Wahrheit steht in den Büchern und wenn wir uns an die Bücher halten, werden wir die Orientierung nicht verlieren.
Auf den zweiten Blick hat das Bild aber auch etwas Paradoxes, fast Surrealistisches, wie das Erleben in einem Traum, in dem es einen nicht wirklich berührt, wie die Umgebung aussieht und man mit der sogenannten traumwandlerischen Sicherheit seinen Weg verfolgt. Es scheint vor allem paradox, dass alles kaputt ist außer den Büchern. Man würde erwarten, dass Sie als Erstes den Flammen zum Opfer fallen oder zumindest wie bei allen klassischen Bibliotheksbränden zusammen mit dem Gemäuer untergehen.
Und dann kommt noch eine Lesart hinzu, die aus heutiger Perspektive, aus dem rasanten Bedeutungsverlust des Buchwissens heraus die Verblendung dieser Männer in den Blick bekommt, die, anstatt sich darum zu kümmern, dass ihre Familien was zu essen bekommen, in zerstörten Bibliotheken abhängen. Aber vielleicht sind sie ja auch auf der Jagd nach etwas, was sich noch verkaufen und in Essbares verwandeln lässt. Aber es sind eben auch keine wahllosen Plünderer, sondern sie wählen bedacht, was sie geistig weiterbringen könnte oder eben etwas, das einen das Furchtbare überdauernden Wert haben könnte.
Kommentar von David Campany (aus dem Buch „On Photographs“ dass ich hier besprochen habe):
„Am 27. September 1940 zerstörten zwei deutsche Bomben den größten Teil von Holland House, einem Privathaus im Westen Londons. Die umfangreiche Bibliothek verlor ihr Dach, aber die Regale blieben bemerkenswert unbeschädigt. Ein Pressefotograf, dessen Name nicht mehr bekannt ist, machte mindestens drei Aufnahmen, von denen die vorliegende die formalste ist. Es gibt auch eine Wochenschau, die zeigt, wie sich die Figuren ihren Weg durch die Trümmer suchen.“
Er zitiert dabei Susan Sonntag, die sich in dem Buch „Regarding the Pain of Others (2003)“ auch zu dem Bild geäußert hat:
„Es ist erfreulich, sich vorzustellen, dass … diese drei Herren dabei beobachtet wurden, wie sie in der zerstörten Villa ihren Buch-Gewohnheiten frönten, und der Photograph tat nicht viel mehr, als sie anders zu platzieren, um ein prägnanteres Bild zu machen.“
„In diesem Bild ist kein körperlicher Schmerz zu sehen, und seine Schärfe scheint einer widersprüchlichen Mischung aus Dringlichkeit und distanzierter Betrachtung zu dienen. Angesichts des theatralischen Charakters der Szene scheint es nebensächlich zu sein, darüber nachzudenken, ob das Foto gestellt war. Wer würde sich an einem solchen Ort nicht wie ein flanierender Spieler fühlen? Und wer mit einer Kamera könnte dieser schrecklichen Spannung zwischen Realität und Albtraum widerstehen?“
The game of slowing down the flow of images by picking one to look at, writing down your thoughts and feelings while looking at it, and sharing them with the other two viewers continues. In the first round, only the person who selected the picture knows the context from which it originates. At the end, the context is revealed and there is an opportunity to react again. I have chosen the picture above (I will name the source below). Very quickly came
Harald’s comment:
“From the time when men still wore hats. And read books. The library may be gone, but the books are intact! The interest in the virtual world has probably always been greater than in the real world. Turning away from the gruesome events and immersing yourself in the world of books.
A library in the open air, the light here has never been so good. The collapsed and charred ceiling beams look like a modern sculpture. But the three gentlemen only look at the books. They seem to be in no hurry. One carefully selects a volume, another browses, the third reads the titles with interest, his right hand in his coat pocket. A surreal thought occurs to me: maybe the three of them didn’t even notice the fire and just stayed…
The mastery with which this somewhat absurd moment is captured could be the signature of Bresson.”
The other comment took a bit more time
Michael’s comment:
“That can only be English and if so, London in WW2,” was my first thought. One question on the web and two mouse clicks later came confirmation. It’s amazing what has been documented and archived in the best quality. I have not yet immersed myself in the atmosphere of horror, I am still observing and analyzing everything from a distance. I am still struggling to delve deeper, to let go of my emotions.
As I watch and get involved, I get closer, and then I ask myself: isn’t it the same for the men? They seem like normal visitors looking for a particular reading. Aren’t they also blocking out feelings such as sadness, suffering and powerlessness at this moment? Or is this phase, in which they are actually just sitting weeping and despairing among the ruins of the inferno, already behind them?
I feel how I connect and at the same time how I protect myself from getting too close.
Numerous impressive photos of the undestroyed library (s.b.) form a thought in me: nothing in this world lasts forever. Everything, no matter how wonderful it is, disintegrates. Either through natural forces of decay, or mankind itself finishes off its self-created splendors and beauties at breakneck speed.
Rolf’s comment:
I recently bought a book that is supposed to contain the most important pictures in the history of photography, but apparently the author has a very particular taste, so he chose the right photographers but always the wrong pictures. That’s why I preferred to pick up David Campany’s book “On Photographs” again, and this picture immediately captivated me. It is almost an allegory of the mindset in the Gutenberg galaxy. No matter what the world looks like, the truth is in the books and if we stick to the books, we won’t lose our bearings.
At second glance, however, the picture also has something paradoxical, almost surrealistic about it, like experiencing a dream in which you are not really affected by what your surroundings look like, and you follow your path with the so-called somnambulistic certainty. Above all, it seems paradoxical that everything is broken except the books. You would expect them to be the first to fall victim to the flames or at least to perish along with the walls, as in all classic library fires.
And then there is also a reading that, from today’s perspective, takes the rapid loss of importance of book knowledge and looks at the blindness of these men who, instead of making sure their families have something to eat, hang out in destroyed libraries. But perhaps they are also on the hunt for something that can still be sold and turned into something edible. But they are not indiscriminate looters either, they choose carefully what might help them spiritually or something that might have a value that outlasts the horror.
Comment by David Campany (from the book “On Photographs”) that I reviewed here:
“On 27 September 1940, two German bombs destroyed most of Holland House, a private residence in west London. The extensive library lost its roof, but the shelves were left remarkably undamaged. A press photographer, whose name has been lost, took at least three shots, of which this is the most formally composed. Some newsreel also survives of these figures picking their way through the debris.”
He quotes Susan Sonntag, who also commented on the picture in the book “Regarding the Pain of Others (2003)”:
“It is pleasing to imagine that… these three gents were observed indulging their bookish habits in the destroyed mansion, and the photographer did little more than space them differently to make a more incisive picture.”
“There’s no physical pain depicted in this picture, and its incisiveness seems to serve a contradictory mix of urgency and distanced contemplation. Given the essential theatricality of the scene, to ponder whether the photograph was a set-up seems beside the point. Who wouldn’t feel like a strolling player in such a place? And who with a camera could resist that awful tension between reality and nightmare?”
Das Bild von den drei gut gekleideten Männern mit Hüten in der zerstörten Bibliothek beeindruckt mich sehr. Ich denke, es ist ein eindringliches Zeugnis der Resilienz des menschlichen Geistes inmitten von Zerstörung und Chaos. Es erzählt nicht nur von einem physikalischen Raum, der durch Bombenangriffe verwüstet wurde, sondern auch von der Trauer und dem Verlust, die mit dem Verschwinden von Wissen und Kultur einhergehen.
David Campany beschreibt treffend, wie die Bomben am 27. September 1940 das ehrwürdige Holland House verwandelten – ein Ort, der einst voller Geschichten und Ideen war, nun jedoch in Trümmern liegt. Die Regale stehen noch, als ob sie stumm Zeugnis ablegen wollen von all dem, was verloren ging. Die Männer mit ihren Hüten scheinen auf einer Reise durch die Ruinen zu sein, nicht nur physisch, sondern auch emotional. Ihre Körperhaltung und Mimik erzählen von einer Mischung aus Entschlossenheit und Traurigkeit; sie suchen nach etwas Vertrautem und Beständigem in einem Meer aus Chaos.
Es ist bemerkenswert, dass trotz der Verwüstung die Regale unbeschädigt geblieben sind – ein Symbol für die Beständigkeit des Wissens selbst in den dunkelsten Zeiten. Diese Szene erinnert mich daran, dass selbst wenn alles um uns herum zerbricht, hoffentlich die Essenz unserer Kultur und Identität weiterlebt.
Für mich vereinen sich in diesem Bild Vergangenheit und Gegenwart: Es ist eine Mahnung an die Zerbrechlichkeit unserer Welt und gleichzeitig ein Aufruf zur Bewahrung dessen, was uns wichtig ist. Die drei Männer stehen für alle, die sich durch das Chaos kämpfen – auf der Suche nach Licht in der Dunkelheit und nach einem Weg zurück zu den Geschichten, die uns verbinden.
Es freut mich, dass du deine Gedanken zu dem Bild mit uns anderen Lesern teilst. Ich würde mir wünschen dass das noch mehr Leute machen.
Aber es gehört eben auch dazu, dass man von dem Bild angesprochen wird, dann kommt die Antwort mühelos.
Ich kannte das Foto nicht.
Mein erster Gedanke war: Montage/Photoshop.
Denn ist es möglich, dass drei Männer in einem beängstigend zerstörten Ort
seelenruhig in Büchern stöbern, nach Büchern suchen?
Entspannt und Haltung bewahrend auf Trümmern stehen?
Nun, es ist verbrieft, dass es sich um ein dokumentarisches Bild handelt, eines aus einer kleinen Serie der gleichen Situation. Der Photograph ist allerdings unbekannt. Fraglich ist nur, ob der Photograph den Herren mal eben zugerufen hat, sie sollen sich bildgerecht aufstellen.
Das war mehr als eine Bildbetrachtung – spannend!
Ich fände es cool, wenn ich auch die Leser:innen dazu aktivieren könnte mal innezuhalten und aufzuschreiben, was das Bild bei ihnen auslöst.
Sehr lesenswerte Kommentare!
Ja, es ist spannend, was so ein Bild alles an die Oberfläche bringen kann, wenn man ihm die Zeit dazu lässt.