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Carrie Mae Weems in Stuttgart

Früher als geplant, hat sich eine Möglichkeit ergeben, nach Stuttgart zu kommen und durch die übervolle Königstraße zur deutlich weniger überlaufenden württembergischen Kunstverein am Schlossplatz zu pilgern. Dort, und da muss ich mich dem überschwänglichen Lob von Sprengel-Kurator und Blogger Stefan Gronert anschließen, findet eine großartige Werkschau der amerikanischen Künstlerin und Fotografin Carrie Mae Weems  statt. Eine eminent wichtige Ausstellung, bei der man sich wundert, warum sie nicht schon früher in einem größeren Haus stattgefunden hat.

Harald und ich, zwar alte weiße Männer, haben sich auf den Weg gemacht, sich mit der Sicht der Welt und der Geschichte einer `Woman of Color´ auseinanderzusetzen. Und das war durchaus ein Wagnis, denn die entsprechenden Themen werden in der von Carrie Mae Weems mitgestalteten Ausstellung mit einer ästhetischen Wucht präsentiert, der man sich nur schwer entziehen kann.

Earlier than planned, an opportunity has arisen to come to Stuttgart and make a pilgrimage through the crowded Königstraße to the much less crowded Württembergischer Kunstverein on Schlossplatz. There, and here I must echo the effusive praise of Sprengel curator and blogger Stefan Gronert , a magnificent show of work by American artist and photographer Carrie Mae Weems  is taking place. An eminently important exhibition, one wonders why it was not held earlier in a larger venue.
Harald and I, though old white men, set out to explore the view of the world and the history of a ‘Woman of Color’. And that was quite a gamble, because the relevant themes are presented in the exhibition, co-designed by Carrie Mae Weems, with an aesthetic force that is hard to resist.

Gleich am Eingang begrüßen einen 4 überlebensgroße Rückenansichten von Menschen verschiedener Hautfarbe und Geschlechts, auf deren Rücken rot je ein Buchstabe erscheint. ATGC. Gleich hier wird deutlich, wie wichtig die erläuternden Worte sind, um die Hintergründe der jeweiligen Serie zu verstehen. Es geht um Adenosin, Thymin, Guanin und Cytosin die Bestandteile der DNA. Das wiederum verweist vor allem darauf, dass per DNA-Test nachgewiesen wurde, dass Präsident Jefferson Vater der Kinder seiner versklavten Schwägerin Sally Hemmings war. Und das ist nur eine Deutungsebene. Je mehr man erfährt desto weiter fächern sich die Bedeutungen der Serien auf. Der Württembergische Kunstverein stellt auf seiner Homepage ein umfangreiches Booklet mit deutschen und englischen Erläuterungen zu den Serien zum Download bereit.

In der Serie „Kitchen Table Series“ von 1990 werden immer drei Bilder von einem poetischen Text begleitet, der die Geschichte einer Liebe und eines Lebens erzählt. Ein Mann, ein Kind und zum Schluss allein. Alle Bilder sind am gleichen Küchentisch aufgenommen, mit dem Mann, mit dem Kind, mit einer Freundin und allein…

Right at the entrance you are greeted by 4 larger-than-life back views of people of different skin color and gender, each with a letter in red on their backs. ATGC. Right here it becomes clear how important the explanatory words are to understand the background of the respective series. It is about adenosine, thymine, guanine and cytosine the components of DNA. That, in turn, refers primarily to the fact that it was proven by DNA test that President Jefferson was the father of the children of his enslaved sister-in-law, Sally Hemmings. And that is only one level of interpretation. The more one learns, the more the meanings of the series fan out. The Württembergischer Kunstverein provides a comprehensive booklet with German and English explanations of the series for download on its homepage.
In the series “Kitchen Table Series” from 1990, three pictures are always accompanied by a poetic text that tells the story of a love and a life. A man, a child, and in the end alone. All images are taken at the same kitchen table with the man, with the child, with a friend and alone…

Im Zentrum der Ausstellung ist ein dunkler Raum, in dem in den Spalt zwischen geschwungenen hängenden, rotsamtenen Vorhängen geisterhafte Bilder projiziert werden, während Musik läuft. bluesige Songs, deren Text unter der Projektion untertitelt wird. Flankiert wird dieses blutrote Zentrum der Ausstellung von zwei Serien schwarz-weißer großformatige Bilder. Die eine zeigt Carrie Mae Weems vor Museen. Überhaupt taucht sie oft in ihren Bildern auf. Ich denke, weil sie nicht andere zum Objekt ihrer Kunst machen möchte oder auch weil ihre Kunst von ihr erzählt und nicht von anderen. Die zweite schwarz-weiße Serie im Zentrum der Ausstellung sind zusammen mit Studenten nachgestellte Szenen ikonischer Momente der Geschichte, beginnend mit Hiroshima über die Morde an den Führern der schwarzen Befreiungsbewegungen bis zu den Attentaten auf Benazir Bhutto und John F. Kennedy. Ein Klassenzimmer am Ende der Serie deutet eine Zukunft an, die hoffentlich kommen wird.

At the center of the exhibition is a dark room where ghostly images are projected into the gap between curved hanging red velvet curtains while music plays. Bluesy songs whose lyrics are subtitled under the projection. Flanking this blood-red center of the exhibition are two series of black-and-white large-format paintings. One shows Carrie Mae Weems in front of museums. In general, she often appears in her paintings. I think because she doesn’t want to make others the object of her art or also because her art is about her and not about others. The second black and white series at the center of the exhibition,  are scenes recreated together with students, scenes of iconic moments in history beginning with Hiroshima, through the assassinations of leaders of black liberation movements, to the assassinations of Benazir Bhutto and John F. Kennedy. A classroom at the end of the series hints at a future that we hope will come.

Einige Serien sind sehr politisch. Wie „And Twenty Two Million Very Tired and Very Angry People“ (1991) eine Serie von 15 Drucken nach Polaroid-Aufnahmen mit jeweils einer kurzen Phrase darunter, die das gezeigte beschreibt: A Precise Moment in Time, An Informational System, A Cool Drink of Water, A Hot Day, A Little Black Magic, A Hammer, A Sickle, A Dagger, Some Theory, A Song to Sing, A Bell to Ring, An Armed Man and A Veiled Woman”, ein Wort-Bildgedicht und eine Gebrauchsanweisung – für die Revolution.

Viele Serien thematisieren in Wort und Bild die Situation von `People of Color´, vor allem Afroamerikanern, aber auch amerikanischen Ureinwohnern, der Gewalt, die diese erleiden mussten und zum Teil noch müssen. Aber auch der Gegengewalt z.b. durch die `Black Panther´-Bewegung, die vor allem in einer sehr irritierenden Installation in Form einer Wohnzimmerecke mit Bildern, Büchern und Objekten ausgestaltet ist. “Land of Broken Dreams, A Case Study”, eine recht neue Arbeit von 2021. Dazu gehört auch eine Enzyklopädie “History of Violence”, die in den verwendeten Buchtiteln die Geschichte der Unterdrückung von `People of Color´ und ihre Wurzeln im Kolonialismus und Kapitalismus widerspiegeln.

Die Künstlerin arbeitet in einigen sehr starken Serien mit Fundstücken, wie z.B. in der Serie „From Here I Saw What Happened and I Cried“ von 1995/96 wo sie sich mit den typisierten Bildern von `Schwarzen´ im 19. Und 20. Jahrhundert auseinandersetzt. Die vorgefundenen Bilder sind vergrößert, mit einem Rotfilter verfremdet, in einem Rahmen mit rundem Ausschnitt gefasst und mit Texten versehen. Sie konfrontieren einen unmittelbar mit einer Darstellungskultur, die zwar heute nach und nach überwunden wird, aber irgendwie doch nachwirkt.

Some series are very political. Like “And Twenty Two Million Very Tired and Very Angry People” (1991) a series of 15 prints based on Polaroid shots each with a short phrase underneath describing what is shown: A Precise Moment in Time, An Informational System, A Cool Drink of Water, A Hot Day, A Little Black Magic, A Hammer, A Sickle, A Dagger, Some Theory, A Song to Sing, A Bell to Ring, An Armed Man and A Veiled Woman,” a word-picture poem and instruction manual-for revolution.
Many series thematize in words and pictures the situation of ‘People of Color’, especially African Americans but also Native Americans, the violence they had to suffer and partly still have to suffer. But also the counter-violence, e.g. by the ‘Black Panther’ movement, which is especially designed in a very irritating installation in the form of a living room corner with pictures, books and objects. “Land of Broken Dreams, A Case Study”,”´ a fairly recent work from 2021, which includes an encyclopedia “History of Violence” that reflects in the book titles used the history of oppression of `People of Color’ and its roots in colonialism and capitalism.
The artist works with found objects in some very strong series, such as the series “From Here I Saw What Happened and I Cried” from 1995/96 where she deals with the typified images of `black people’ in the 19th and 20th centuries. The found images are enlarged, alienated with a red filter, set in a frame with a round cut-out and provided with texts. They confront one directly with a culture of representation that is gradually being overcome today, but somehow still has an effect.

Text in den Bildern (Übersetzung): Du wurdest zu einem wissenschaftlichen Profil, einem negroiden Typ, einer anthropologischen Debatte und einem photographischen Thema.

Wenn man denkt man sei als Europäer nicht betroffen, muss man sich nur die Rolle der Kolonialmächte und ihre Beteiligung am Sklavenhandel erinnern. Aber Carrie Mae Weems hält uns auch ganz direkt den Spiegel vor. Mit der Serie “Holocaust Memorial” von 2013, in der sie in Bildern und in einem Video in Berlin mitten zwischen den Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas eine Art rituellen Tanz aufführt, der uns mit unserer eigenen Unterdrückungs- und Vernichtungsgeschichte konfrontiert.

Ich kann wie immer nur einen kleinen Einblick geben über die Serien, die mich am meisten beeindruckt haben. Ich denke, dass ich bei diesem ersten Besuch auch Einiges ausgeblendet habe, einfach um nicht völlig überwältigt zu werden. Eine berührende, zum Nachdenken anregende und, wenn man entsprechend offen ist, erschütternde Ausstellung, die ich trotzdem und gerade deswegen Jedem/ Jeder nur ans Herz legen kann

If you think you are not affected as a European, you only have to remember the role of the colonial powers and their involvement in the slave trade. But Carrie Mae Weems also holds up a mirror to us quite directly. With the series “Holocaust Memorial” from 2013, in which she performs a kind of ritual dance in pictures and in a video in Berlin in the middle of the stelae of the Memorial to the Murdered Jews of Europe, which confronts us with our own history of oppression and extermination.

As always, I can only give a small glimpse about the series that impressed me the most. I think I also blocked out some things on this first visit, simply to avoid being completely overwhelmed. A touching, thought-provoking and, if you are open-minded, shattering exhibition, which I can nevertheless and especially for this reason only warmly recommend to everyone.

3 Comments

  1. Harald S.

    Es gibt in der wuchtigen Ausstellung von Carrie Mae Weems kein überflüssiges Bild. Sie trifft den Betrachter, der sich nicht verschließt, und zwingt ihn zu einem Perspektivwechsel.

    Die schöne westliche Kultur, die ich so liebe, ist weitgehend auf der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Kulturen aufgebaut. Zum ersten Mal ist mir das klar geworden nachdem ich die Bücher von W.G. Sebald kennengelernt hatte. Ich stand vor dem gigantomanischen Justizpalast in Brüssel und dachte daran, wie sein Bauherr, Leopold II. aus dem Hause Sachsen-Coburg, den Kongo ausgebeutet hat.

    Nun ja, man mag sagen, das ist alles Vergangenheit, wir haben damit nichts mehr zu tun. Doch diese Ausrede ist nicht nur moralisch fragwürdig, sie ist auch falsch. Der westliche Kolonialismus trägt heute nur andere Kleider als vor 100 Jahren. Indem wir subventionierte Lebensmittel aus Europa nach Afrika exportieren, nehmen wir den afrikanischen Bauern die Lebensgrundlage. Und wir exportieren unseren Wohlstandsmüll dorthin.

    Carrie Mae Weems zeigt, wozu Fotografie in der Lage ist, wenn sie bewusst angewendet wird.

  2. Wolfgang Rühle

    Hi Rolf, das ist ein sehr gelungener Ausstellungsbericht. Es tut mir richtig leid, das ich da wohl nicht hingehen kann. Oder ist die Ausstellung Mitte August immer noch zu sehen? Da bin ich mal wieder im Ländle. Ich schau al nach.
    Wolfgang

    • Rolf Noe

      Merci, offiziell geht die Ausstellung bis 10.7., aber es gibt eine Chance, dass sie verlängert wird. Und ich denke, hoffe, es werden weitere Ausstellungen dieser außergewöhnlichen Künstlerin folgen. Melde dich auf jeden Fall, wenn Du in “The Länd” weilst.

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