Ich dachte immer ich wisse, was das ist, die dokumentarische Photographie. Auch um mich mit aufkommenden Zweifeln auseinanderzusetzen, habe ich die Ausstellung „Dokumentar Fotografie- Förderpreise 13“ im `Museum im Kleihues-Bau´ in Kornwestheim besucht. Joachim Schielke, Vorstandsvorsitzender der Wüstenrot Stiftung, schreibt in seinem Vorwort zum Ausstellungskatalog:
„Der Dokumentar Fotografie Förderpreis der Wüstenrot Stiftung … richtet sich an Fotograf:innen, die sich mit Themen der realen Lebenswelt beschäftigen und mit zeitgenössischen Mitteln die Repräsentationsfunktion der Fotografie neu definieren.“ Christin Müller ergänzt:
„Mit der Erweiterung der bildsprachlichen Mittel in der dokumentarfotografischen Praxis geht zunehmend eine Veränderung des Selbstverständnisses der Künstler:innen als Bildautor:innen einher. Die Haltung, die diese bezüglich ihres Budgets und ihre BetrachterInnen einnehmen, ist flexibel geworden. Neben dem fotografischen Bericht stehen ein visuelles Nachdenken und ein sich in Bezug setzen, die geteilte Autorenschaft sowie die Einbindung der Betrachter:innen-Erlebnisse in die dokumentarische Zeugenschaft.“
Was mir bei der Auswahl dieser Förderpreisträger-Ausstellung aufgefallen ist, ist zum einen, dass die Photographie letztlich nur noch das Rohmaterial ist, auf dem die Präsentationen basieren. Sabrina Asche druckt die Photos der Textilarbeiterinnen aus Bangladesch, die im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Künstlerin entstanden sind, auf Textilien und zeigt das Photo-Material nur noch in einem begleitenden Video. Luise Marchand collagiert graphische und photographische Materialien zu Plakaten, die aber nur den Rahmen bilden für eine Multimedia-Präsentation über Work-Life-Merging, die man liegend im wahrsten Sinne des Wortes über sich ergehen lassen muss. Das Zweite, das mir auffiel, ist, dass die präsentierten Werke sich von der Reportage weg und hin zur künstlerischen Auseinandersetzung mit den Themen entwickeln. Wenzel Stählin bearbeitet das Thema des Maßstabes, an dem sich Architektur orientiert, indem er sich selbst körperlich mit Architekturmodellen ins Verhältnis setzt. Aber auch seine weitgehend traditionell photographische Arbeit wird von einem Video begleitet. Heiko Schäfer ist mit seiner Arbeit über Arbeitsrealitäten am untersten Rand des Einkommensspektrums in Nordrhein-Westfalen vielleicht noch am ehesten als Reportage erkennbar, aber auch hier wird in der kleinen Zahl von gezeigten Menschen deutlich, dass auch der persönliche Bezug des Autors zu den Protagonisten seiner Darstellung eine Rolle spielt, wenn er diese in ihren Kontexten begleitet. Die Ausstellung wird nach Kornwestheim noch bis zum 18.6.23 im Museum für Photographie in Braunschweig zu sehen sein.
Kann man also sagen, dass in den Arbeiten die aus der Lebensrealität genommenen Themen durch die persönliche Auseinandersetzung damit sozusagen einen subjektiven Blick auf objektive Tatsachen eröffnen? Das wäre ja so etwas wie eine andere Definition dokumentarischen Arbeitens mit Photographie.
Die Multimedia-Aspekt ist mir schon bei der letzten Ausgabe – und ich muss es noch einmal sagen, wie schade ich es finde, dass das Festival aus finanziellen Gründen nicht mehr stattfindet – des `LUMIX Festival for young visual Journalism´ aufgefallen. Möglicherweise geht es bei der Multimedialität eben auch darum, dass die Adressaten ja nicht mehr, wie noch vor 50 Jahren, an einem Ort/in einem Medium zu erreichen sind. Die großen Zeiten der illustrierten Wochenmagazine sind schon lange vorbei und sie bilden nur noch einen Schwerpunkt im Reigen der Medien. Fernseh- und Video-Dokus sind uns ja hinlänglich vertraut, Ausstellungen können Dokumentarisches zeigen, Photobücher über Themen unsere Lebenswelt transportieren meist sehr persönliche Sichtweisen, Multimedia-Schauen sind zwar auch ein fast schon vergessenes Medium, touren aber immer noch durch die Lande oder erscheinen stattdessen auf YouTube. Blogs und Podcasts ergänzen den Reigen. Wer nicht zumindest ein Teil dieser Möglichkeiten bespielt, engt sein Publikum auf diejenigen ein, die das gewählte Medium bevorzugen.
Letztlich war der subjektive Aspekt des dokumentarischen auch immer schon mit an Bord, aber es war eben – vor allem wenn es mehr Richtung Presse oder Reportage ging – wichtig, den Schein der Objektivität zu wahren. Was für die Zukunft extrem schwierig wird, ist die zunehmende Auflösung dessen, was im gemeinsamen Diskurs als intersubjektiv tragfähig vereinbart wurde in unzählige Diskurs-Blasen, die ihre eigene Realität generieren. Das ist, könnte man sagen, die dunkle Seite des Subjektiven und wenn diese Schattenseite zusätzlich auch noch die neuen Werkzeuge der repräsentationsbefreiten Bildgenerierung zur Verfügung gestellt bekommt, dann kann es für Vernunft und `Common Sense´ echt schwierig werden in Zukunft.
Ein kleines Beispiel, das ahnen lässt, in welche wilden Fahrwasser das Dokumentarische in Zukunft geraten wird, habe ich in der fotocommunity gefunden. Da hat jemand konkret Bilder von den Unruhen in Paris generieren lassen, die den Eindruck des Dokumentarischen erwecken. Ich kenne auch die sensationelleren Belege für den dokumentarischen Anschein generierter Bilder wie `Trumps Verhaftung´, `der Papst im Balenciaga -Mantel´ oder `Putins Kniefall´ usw., aber ich habe mich für dieses eher unscheinbare Beispiel entschieden, weil es zeigt, dass jetzt Jede:r solche Bilder generieren kann.
Als die KI generierten Bilder letzten Herbst aufkamen, war mein Eindruck noch, dass die dokumentarische Photographie diese neue Bilderflut überleben wird. Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher.
I always thought I knew what it was, documentary photography. Also to deal with emerging doubts, I visited the exhibition “Dokumentar Fotographie- Förderpreise 13” in the ‘Museum im Kleihues-Bau’ in Kornwestheim. Joachim Schielke Chairman of the Board of the Wüstenrot Foundation writes in his preface to the exhibition catalog:
“The Documentary Photography Award of the Wüstenrot Foundation … is aimed at photographers who deal with topics of the real world and redefine the representational function of photography with contemporary means.” Christin Müller adds:
“The expansion of the pictorial means in documentary photographic practice is increasingly accompanied by a change in the self-image of the artists as image authors the attitude they take with regard to their budget and their viewers has become flexible alongside the photographic report are a visual reflection and a relating, the shared authorship as well as the involvement of the viewers experiences in the documentary testimony.”
What struck me about the selection of this grant-winner exhibition is, first, that the photography is ultimately only the raw material on which the presentations are based. Sabrina Asche prints the photos of Bangladeshi textile workers, which were taken during the collaboration with the artist, on textiles and only shows the photographic material in an accompanying video. Luise Marchand collages graphic and photographic materials into posters, but these only frame a multimedia presentation about work-life merging that you have to literally lie through.
The second thing that struck me is that the works presented are moving away from reportage and towards artistic engagement with the issues. Wenzel Stählin works on the theme of the scale to which architecture is oriented by physically placing himself in relation to architectural models. But his largely traditionally photographic work is also accompanied by a video. Heiko Schäfer’s work on labor realities at the lowest end of the income spectrum in North Rhine-Westphalia is perhaps most recognizable as reportage, but here, too, the small number of people shown makes it clear that the author’s personal relationship to the protagonists of his portrayal also plays a role when he accompanies them in their contexts. After Kornwestheim, this exhibition will be on view at the Museum für Photographie in Braunschweig until 6/18/2013.
So can one say that in the works the themes taken from the reality of life open up a subjective view of objective facts, so to speak, through the personal confrontation with them? That would be something like another definition of documentary work with photography.
The multimedia aspect already caught my eye at the last edition – and I have to say it again what a shame I think it is that the festival is no longer taking place for financial reasons – of the ‘LUMIX Festival for young visual Journalism’. Possibly, multimedia is also about the fact that the addressees can no longer be reached at one place/medium as they were 50 years ago. The great days of illustrated weekly magazines are long gone, and they play now only one part in the media round-up. Television and video documentaries are sufficiently familiar to us, exhibitions can show documentaries, photo books about topics in our lives usually convey very personal perspectives, multimedia shows are also an almost forgotten medium, but still tour the country or appear on YouTube instead, blogs and podcasts complete the round. Those who don’t play at least some of these options narrow their audience to those who prefer the chosen medium.
Ultimately, the subjective aspect of the documentary has always been on board, but it was important to keep up the appearance of objectivity, especially when it came to press or reportage. What will be extremely difficult for the future is the increasing dissolution of what was agreed upon in common discourse as intersubjectively sustainable into countless discourse bubbles that generate their own reality. This is, one could say, the dark side of the subjective and if this shadow side is also provided with the new tools of representation-free image generation, then it can be really difficult for reason and common sense in the future.
I found a small example in the fotocommunity, which gives an idea of the wild waters the documentary will get into in the future. There someone has generated concrete pictures of the riots in Paris, which give the impression of documentary. I also know the more sensational evidence for the documentary appearance of generated images like ‘Trump’s arrest’, ‘the pope in the Balenciaga coat’ or ‘Putin’s genuflection’ etc. but I chose this rather inconspicuous example because it shows that now everybody can generate such images.
When the AI generated images appeared last fall, my impression was that documentary photography will survive this new flood of images. I’m not so sure anymore.
Wenn ich´s mir genauer überlege, scheint mir die Annahme, man könne mit Bildern darstellen, warum …, doch nicht recht sinnvoll. Bezogen aufs Beispiel: Wenn du mich fragst, warum ich das Gartentor installiert habe, und ich dir in Reaktion auf deine Frage eine entsprechende Erklärung abgebe, dann wäre das ja wohl die Erklärung, warum ich das Gartentor installiert habe. Und wenn ich dir nun erkläre, warum ich das Gartentor installiert habe, dann wohl kaum, indem ich dir ein Foto zeige, mit dem dargestellt sein soll, warum ich es (das Gartentor) installiert habe; sondern indem ich dir ein Foto zeige als Darstellung einer Horde Touristen im Garten; oder als Darstellung, wie sich eine Horde Touristen im Garten breitgemacht hat; oder …
Da muss ich mein Verständnis von “dokumentarischer Photografie wohl korrigieren müssen. Das war bislang ein völlig anderes.
Es gibt meiner Meinung nach durchaus eine Zukunft der traditionellen dokumentarischen Photographie. Sie liegt in den öffentlich zugänglichen Bildarchiven. Sie ist kein Beitrag zur Diskussion um den Wahrheitsgehalt der Photographie. Sie erhebt auch keinen Anspruch auf Kunst. Sie ist leise. Doch sie hält den ständigen Wandel fest, der die Lebenswelt prägt. Darin liegt ihre Aufgabe und ihr Wert.
Wenn man Fotografie und KI generierte Bilder in einen Topf wirft, begeht man leider einen großen Fehler. Boris Eldagsen versucht das gerade aufzulösen. Er spricht bei den KI generierten Bildern von „Promptografie“ und führt einige Diskussionen in den Organisationen und Verbänden. Es lohnt ihm zu folgen:
https://instagram.com/boriseldagsen?igshid=ZjE2NGZiNDQ=
Der gute Boris (erstaunlich wie viel Wirbel er in letzter Zeit zu verursachen geschafft hat), war von Anfang an eine meiner Quellen. Die Idee mit der #promtographie kam für diesen post zu spät, aber ich überlege, ob ich da was eigenes draus mache. Den Link, den du beigefügt hast, empfehle ich ausdrücklich auch.
Na ja, hat man sich erst mal klargemacht, dass Bilder allemal aus einem (und sei´s im weitesten Sinn) kommunikativen Zusammenhang heraus verstanden werden, dann erscheint das eigentlich überhaupt nicht schwierig. Würdest du mich zum Beispiel fragen, warum ich ein Gartentor installiert habe, könnte ich dir zur Erklärung das Foto einer Horde sich im (jetzt verschlossenen) Garten breit machender Touristen zeigen, das so dann (problemlos, wie ich meine) zur Darstellung, warum ich ein Gartentor installiert habe, geworden wäre.
Ich möchte hier eine Bemerkung von Stefan einfügen, die zwar nicht leicht zu lesen ist, aber einen Aspekt in die Diskussion einbringt, den ich auch wichtig finde: Die Verwendung von Dokumentarischen Darstellungen im kommunikativen Zusammenhang zu betrachten.
“Wichtig hier scheint mir, darauf hinzuweisen, dass der Wahrheitsgehalt auch dokumentarischer Fotos in ihrer (kommunikativen) Verwendung liegt – und nicht in dem, was mit ihnen dargestellt wird.
Man kann mit Bildern/Fotos zum Beispiel darstellen, wie jemand etwas gemacht hat oder warum jemand etwas gemacht hat oder wann jemand etwas gemacht hat; aber man kann mit ihnen nicht darstellen, dass jemand etwas gemacht hat. Und wahr (oder falsch) sein kann nicht, wie jemand etwas gemacht hat oder warum jemand etwas gemacht hat oder wann jemand etwas gemacht hat, sondern nur, dass jemand etwas gemacht hat.
Und wenn nun jemand ein Foto generiert, mit dem er zum Beispiel darstellt, wie ein anderer etwas tut, das er niemals getan hat, dann ist das – klar – weder wahr noch falsch. Wahrheit oder Falschheit kommen ins Spiel, wenn er zum Beispiel behauptet oder mitteilt oder eben dokumentiert (zu dokumentieren vorgibt), dass ein anderer etwas tat, das er nie getan hat, indem er sein spezielles Foto zeigt (präsentiert, vorlegt), mit dem er dargestellt hat, wie dieser andere etwas tut, das er nie getan hat.”
Warum glaubst Du, dass man in einem Bild darstellen kann, warum jemand etwas gemacht hat. Das halte ich im Normalfall für schwierig.
Zufällig bin ich gestern auf ein Zitat von Stiegler gestoßen, das von 2004 stammt, aber auf die heutige Situation noch genauso passt: “Die Photographie als authentisches Dokument hat ausgespielt.”
Ganz so pessimistisch bin ich aber nicht. Wenn ich heute vermeintliche KI-Fotos sehe (mancher kennzeichnet sie offensichtlich nicht), dann zeichnen sie sich (noch?) durch spezifische Eigenschaften: nämlich dadurch, dass sie so perfekt inszeniert sind und ihnen das Subjektive fehlt.
Subjektivität ist vielleicht die neue Neutralität (von Objektivität zu sprechen ein Jahrhundert nach Einstein fällt mir schwer).
So gesehen passiert vielleicht mal wieder das, was ja oft passiert: Es gibt eine neue Mode. Wo früher (z. B. Becher, Atget) bestimmte Stilmittel eingesetzt wurden (Perspektive, Licht, etc.), um einen neutrale Haltung vorzuspiegeln, wird das Dokumentarische heute subjektiver, um seine Authentizität zu demonstrieren.
Das ist mir auch schon bei Bieke Depoorter aufgefallen, wobei ich ihr Werk dann (dummerweise) als Kunst gelesen habe …
Möglicherweise wird es so lange dokumentarische Photographie geben, solange es Menschen gibt, die ein Bedürfnis haben, von der Welt auch außerhalb ihres Wahrnehmungsfeldes zu erfahren. Und möglicherweise wird die Authentizität in Zukunft eben nicht darüber hergestellt, dass ich sage, das habe ich in der Zeitung gelesen, sondern darüber, dass ich sage, das Bild hat jemand gemacht, den ich kenne, dem ich vertraue, dessen Ding es ist, solche Bilder zu machen. Der einzige andere Weg, den ich derzeitig sehe ist, dass die Apparate so in die Blockchain eingebunden werden, dass es so eine Art Doku-NFT zu jedem solchen Bild dazu gibt. Der Aufwand dafür ist gigantisch und es ist die Frage, ob es uns das wert ist.
wenn du mal wieder auf Flickr bist, weil gerade zum Thema passt: https://www.flickr.com/photos/130983835@N06/52825104502/in/dateposted/
Das ist die Photoshop-Variante des Spielchens mit der Wirklichkeit. Auch sehr aufschlussreich. Unklar woher sie das Rohmaterial dafür hat.
Ich beobachte diese Photographin auch schon länger. Ich denke, sie lebt in Paris (oder einer anderen französischen Großstadt) und verwendet eigenes Material.