John Berger schreibt in seinem Essay „das Rätsel der Erscheinungen” in dem Buch „Eine andere Art zu erzählen“ (1982) das eine Photoserie von Jean Mohr und Essays zu einzelnen Bilder anderer Photographen enthält:
„Eine Photographie zitiert aus den Erscheinungen, aber indem Sie zitiert, simplifiziert sie diese. Diese Simplifizierung kann ihre Lesbarkeit erhöhen. Alles hängt ab von der Qualität des gewählten Zitats“
Er beschreibt diesen Schnitt durch die Zeit aber nicht als (Zeit)Punkt oder (Schnitt)Linie sondern versucht eine graphische Darstellung indem er den Schnitt als Kreis darstellt um anzudeuten dass er ja einen mehr oder weniger komplexen Inhalt haben kann. Etwa so:
Auf der Seite des Betrachters kommt ja aber nur das Bild (der Kreis) mit seinem mehr oder weniger komplexen Inhalt an und trifft auf einen Betrachter mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Weltwissen und Phantasie. Überdies spiel es eine Rolle wie nahe der Betrachter dem Ereignis steht, da ihn dann unterschiedlich viel mit dem Bildinhalt verbindet.
„Wir haben vorhin erkannt, dass ein Photograph den Betrachter durch die Wahl des photographierten Augenblicks dazu überreden kann, diesen Augenblick mit Vergangenheit und Zukunft auszustatten.“
Dadurch dass der Betrachter aus den im Bild erkennbaren und in seinem Kopf vorhandenen Elementen eine hypothetische Vergangenheit und Zukunft konstruiert gibt er dem Bild eine neue Geschichte, die mehr oder weniger von der „realen“ Geschichte und der Geschichte, die der Photograph gerne erzählt hätte, abweichen kann.
On the side of the observer, however, only the image (the circle) with its more or less complex content arrives and meets a viewer with a more or less pronounced knowledge of the world and imagination.
Moreover, it plays a role how close the viewer is to the event, since it then connects different amounts with the image content.
“We have previously recognized that a photographer can persuade the viewer by choosing the photographed moment to endow this moment with a past and a future.”
By constructing a hypothetical past and future from the elements visible in his mind and present in his mind, he gives the picture a new story, more or less far away from the “real” story or the story, that the photographer would have liked to tell.
Im Bild kann sich der Ablauf der Zeit oft auch ganz unmittelbar oder angedeutet darstellen lassen. Mein Beispiel hier sind verschiedene Entwicklungsstadien einer Pflanze zusammen in einem Bild dargestellt, die sofort die Geschichte von Wachstum und Verfall zu erzählen beginnen (siehe https://photo-philosophy.net/bilder/emulating-time-zeiteindruck/)
Ein Bild kann auch auf ein außerhalb des Bildes aber im Kopf des Betrachters vorhandenes Bild verweisen, womit wir schon zwei Bilder hätten, die schon fast eine Geschichte erzählen können. Als Beispiel fallen mir hier Bilder von alten oder verfallenden Häusern ein (siehe https://photo-philosophy.net/bilder/ausverkauft-sold-out/), die zusammen mit dem Bild wie sie wohl mal ausgesehen haben schon einen zeitlichen Ablauf skizzieren, ohne dass das direkt im Bild zu sehen ist.
In the picture, the passage of time can often also be represented directly or implicitly. My example here are different stages of development of a plant shown together in one picture, which immediately begin to tell the story of growth and decay (see https://photo-philosophy.net/bilder/emulating-time-zeiteindruck/)
An image can also refer to an image outside the image but in the mind of the beholder, with which we already have two images that can almost tell a story. As an example, I think of pictures of old or decaying houses (see https://photo-philosophy.net/bilder/ausverkauft-sold-out/), which, together with the picture as they probably once looked, already sketches a timeline, without being represented directly in the picture.
Auch die Bildunterschrift oder ein dem Bild beigegebener Text kann die Richtung der Geschichte entscheidend beeinflussen. Ich verzichte bei den auf dieser Seite gezeigten Bildern weitgehend auf Bildüberschriften (obwohl ich diese sehr schätze wie man auf meinen streams bei flickr und 500px sehen kann) um dem Betrachter die Arbeit des Geschichtenerfindens nicht abzunehmen. In einem erläuternden Artikel oder in einer Reportage würde ich aber auch zur Vereindeutigung den Bildern Texte mitgeben.
Also the caption or a text added to the picture can decisively influence the direction of the story. therefor the pictures I shown on this page, are largely without captions (although I appreciate these very much as you can see on my streams at flickr and 500px) so as not to deprive the viewer of the storytelling work. In an explanatory article or in a reportage, however, I would also help myself with texts added to the pictures.
Kann man nun mit einem Bild eine Geschichte erzählen oder nicht? Man kann es versuchen, aber man wird sich überraschen lassen müssen davon, was der Betrachter daraus macht. Was wird wohl die Geschichte in diesem Bild sein?
Is it now possible to tell a story with a picture or not? You can try it, but you will have to be willing to be surprised by what the viewer makes of it. What do you think is the story in this picture?
Hier ein Link zu den Gewinnern eines Wettbewerbs in visual storytelling. Entscheidet selbst, ob das Geschichten sind und ob Sie im Bild sind oder erst im Kopf entstehen. Winner of a contest in visual storytelling. Decide for yourself, if these are stories in one picture or stories created in your head: https://www.digitalphoto.de/news/fotowettbewerb-storytelling-sind-11-top-platzierten-100399243.html#galerie
Ich würde sagen, die Geschichten entstehen im Kopf. Auf allen Bildern sind Menschen abgebildet. Über die Mimik und Gesten werden die Grundemotionen angesprochen, die jeder Mensch hat. Durch diese Emotionen ist es leichter solche Geschichten zu erzählen. Durch dieVerwendung dieser Grundemotionen entstehen eindeutigere Geschichten, denn diese Emotionen sind bei allen Menschen gleich.
Im Jahr 2013 gab es beim Schömberger Fotoherbst (Profis) eine Bildserie (Was zurück bleibt), die diese Emotionen auch angesprochen hat, ohne dass eine Person auf den Bildern zu sehen war. Beim
Publikumspreis kam diese auf Platz 2, Platz 1 hatte mal wieder einen Heimvorteil. Für mich ist diese Serie, bis jetzt die beste Bilderserie beim Schömberger Fotoherbst. Ohne auch nur eine Person abzubilden hat die Fotografin es geschafft diese Emotionen anzusprechen. Dass es nicht nur mir so ging zeigt auch die sehr gute Platzierung beim Publikum.
habe mal in den alten Katalogen nachgesehen und bin tatsächlich fündig geworden.
https://photo-philosophy.net/wordpress/wp-content/uploads/2019/03/img057.jpg
Die Bilder sind ein wunderbares Beispiel dafür wie Photographen Gefühle
in ihren Bildern codieren und auch dafür, dass nicht jeder es schafft
Diese zu entschlüsseln und `mitzufühlen´.
Erst einmal finde ich das ärgerlich. Ich hatte mich doch so schön darauf eingeschossen, dass sich Geschichten nur mit mehreren Bildern erzählen lassen! Aber leider hat der Autor recht. Denn Bilder entstehen nicht in der Kamera, sondern im Kopf. In der Kamera werden Flächen, Linien, Licht, Schatten und Farbwerte eingefangen. Das Bewusstsein erst macht ein Bild daraus. Und das Bewusstsein besteht zu einem großen Teil aus Bildern, Bilder die man gesehen, geträumt, erdacht, phantasiert hat. Ein interessantes Photo kann eben auch Bilder provozieren (evozieren?), die eine Geschichte entstehen lassen. Es ist natürlich die Geschichte des Betrachters und sie entsteht meist unabhängig von der Geschichte, die das Foto tatsächlich zeigt.
Das abgebildete Photo löst auch in mir eine Reihe von Gedanken aus: Das geschlossene Tor führt zu einem Photostudio, Die beiden Frauen, die davor stehen, warten darauf, dass es eöffnet wird. Sie wollen ihre Passfotos abholen. Vielleicht wollen sie im Ausland arbeiten.
Eine ganz andere Geschichte erzählen die beiden anderen Frauen. Sie verkörpern entgegengesetzte Lebensphasen. Vor rechts kommt mit sicheren, raumgreifenden Schritten, attraktiv, aktiv und mitten im Leben stehend der Frühsommer des Lebens. Ihr gegenüber steht der Vorwinter – gebrechlich, körperlich eingeschränkt, doch das Interesse an sich selbst und am Leben ist noch nicht erloschen. Wenn sie einander anschauen würden, sähe die eine ihre Vergangenheit und die andere ihre Zukunft. Doch sie sehen aneinander vorbei.
JA, das freut mich, dass es nicht einfach entlang der vorgefassten Linien weitergeht, sondern auch Überraschungen gibt. Diese machen die Auseinandersetzung spannend und halten uns am Ball. Ich hoffe darüberhinaus sehr, dass wir in der nächsten Zeit mal wider eien Beitrag von Dir zu lesen bekommen werden wo du noch ein wenig genauer untersuchst wie es dem Autor einer Bildserie oder Bilder-Reportage gelingen kann, die Kontrolle über seine Geschichte zu behalten. Wie kann man durch Anzahl und Anordnung der Bilder eine Geschichte so erzählen, dass der Leser/Betrachter wenigstens einigermaßen dem Plot folgt? Wie kann man durch Bildüber- oder -Unterschriften die Interpretation lenken? Und wie kann man durch begleitende Texte dafür sorgen, dass die eigene Botschaft auch “rüberkommt”?
Mit nur einem Bild eine Geschichte zu erzählen dürfte sehr schwierig sein. Nur ein Bild wird den einzelnen Betrachtern unterschiedliche Geschichten erzählen. Der Kenntnisstand bzw. Bildung spielt hier eine sehr große Rolle. Auf dem Schild über dem Tor könnte man das Wort “Foto” entziffern, aber stimmt das? Den Text darunter kann man nur entziffern, wenn man der Sprache mächtig ist. Grundvoraussetzung ist daher die Beherrschung der Sprache, um vielleicht die wahre Geschichte zu erfahren. Unter Umständen werden auch noch Ortskenntnisse benötigt. Aber wollte der Fotograf überhaupt eine Geschichte mit diesem Bild erzählen? Bei einer Veröffentlichung im Land, in dem die Aufnahme entstanden ist könnte man sagen “Ja”. In einem anderen Land, in dem die Betrachter der Sprache nicht mächtig sind, würde man sagen “Nein”. Hier ensteht dann beim Betrachter nur Neugier. Man möchte unbedingt wissen, was sich hinter dem Tor verbirgt. Bevor man dies nicht weiß ensteht auch keine eindeutige Geschichte. Der Fotograf fesselt seine Betrachter nur an das Bild.
Vielen Dank für die Ergänzung und Konkretisierung der Gedanken aus dem Beitrag. Ein Aspekt der mich sehr interessiert, ist die im letzten Satz angedeutete Möglichkeit den Betrachter an das Bild zu fesseln. Da würde es sich glaube ich nochmal lohnen etwas ausführlicher darüber nachzudenken, wie man es als Autor des Bildes schaffen kann zu verhindern, dass der Betrachter das Bild schnell wieder “verläßt”? Geht das überhaupt noch in unserer schnellebigen Zeit? Hat es etwas mit der Komplexität der Inhalte oder eher mit der Konstruktion des formalen Rahmens zu tun? Oder geht beides?
Zwei junge Personen stehen vor dem Eingangstor. Am Abend findet hier ein großes Konzert der Musikgruppe Toto, wie auf dem Schild über dem Tor zu erkennen ist, statt. Die jungen Personen versuchen ein Bild von den Stars zu erhaschen, die vielleicht schon auf dem Gelände sind. Die ältere Person kann nicht verstehen, dass man solch einen Aufwand betreibt nur für einen kurzen Blick. Diese Art von Musik ist für sie nur Lärm. Der anderen Frau ist dieser Auftritt ebenfalls egal, den sie würdigt niemand eines Blickes.
Dies ist eine völlig andere Geschichte als die von Harald S., aber auch sie könnte passen. Jedem Betrachter wird zu diesem Bild nicht nur eine Geschichte einfallen, sondern mehrere. Ist dies der Fall, dann fesselt ein Bild, denn man möchte mehrere Geschichten durchspielen. Wahrscheinlich möchte der Betrachter auch die wahre Geschichte hinter dem Bild finden und sucht nach weiteren Hinweisen in dem Bild, um die Geschichte eindeutig zusammenzusetzen.
Warum überblättern wir aber Bilder und andere nicht? Hier ist der erste Eindruck wichtig. Mit einem kurzen Blick können wir die Situation auf dem Bild teilweise wahrnehmen. Fast alle Betrachter haben diese Situation schon einmal real wahrgenommen und sofort wird der Gedanke kommen “Was ist hier los”. Auf den zweiten Blick kann man es sich auch nicht erklären. Die Neugier ist aber so groß, dass man auf dem Bild verbleibt und anfängt zu suchen. Bilder, die wir überblättern fehlt dieser Eyecatcher, mit einem Bildausschnitt eine Emotion hervorzurufen. Dies
hat zur Folge, dass das Bild überblättert wird. Aber was spricht die Betrachter an? In unserem Leben nehmen wir immer wieder neue Situationen wahr. Zu den Bildern speichern wir Emotionen ab. Durch die Betrachtung von ähnlichen Bildern werden diese Emotionen bei den Betrachtern wieder angesprochen. Es gibt Grunderfahrungen, so will ich sie mal nennen, die jeder Mensch gleich macht. Zu bestimmten Gesten gehören die entsprechenden Emotionen. Werden diese in Bildern angesprochen, lösen sie (bei fast) allen Menschen die gleichen Emotionen aus. Andere Erfahrungen sind bei den Menschen unterschiedlich und hängen unter anderem auch vom Kenntnisstand, individuellen Erfahrungen usw. ab. Werden diese
im Bild verwendet, spricht das Bild den einen an, den anderen jedoch nicht.
Um auf den Beitrag zum Fotoherbst zurückzukommen. Beim Publikumspreis müssen möglichst viele Grunderfahren der Betrachter angesprochen werden, nur dann bekommt man viele Stimmen. Sie haben geschrieben, dass Sie im Organistaionsteam sind, daher vielleicht eine kleine Anregung beim nächsten Fotoherbst auch die Plätze 1 bis 5 zu nennen. Platz 1 ist ja oftmals mit einem
Heimvorteil behaftet und daher nicht so aussagekräftig. Eine Analyse der nachplatzierten Bildserien, um zu sehen was die Betrachter angesprochen hat, wäre aber für Fotografen hochinteressant.
Ich werde das mal ansprechen. Letztlich werden beim Jurieren keine definitiven Listen gebildet,
aber meistens sind vier bis fünf Kandidaten in der engeren Wahl. Mal schauen ob es eine Möglichkeit gibt das öffentlich zu machen.