Es ist mir schlechterdings (versuchen Sie veraltete Sprache zu vermeiden – echt jetzt?) nicht verständlich, wie man sich nicht für dieses Buch begeistern kann. Ich auf jeden Fall bin sofort neugierig geworden. Abgesehen davon ist „Hartmann Books“ inzwischen, zumindest was meinen Geschmack angeht, eine echte Fundgrube. Jetzt im August soll z.B. das Buch `Erbgericht´ von Andrea Grützner herauskommen, ein Projekt, das wirklich neue Wege geht, um alte Geschichten zu erkunden.
Aber zurück zum Dorf. Dass drei namhafte Fotografen über Jahrzehnte hinweg ein kleines Dorf in Thüringen dokumentiert haben, ist ja schon mehr als ein Zufall, man möchte fast sagen ein Glücksfall. Zeitgeschichte von 1950 bis in die frühen 20er Jahre unseres Jahrhunderts aufgezeigt an dem, was sich an der Peripherie, in der Provinz davon zeigt. Es ist, so macht Anja Maiers Einleitung schon klar, eine Familienangelegenheit. Ludwig Schirmer, seine Tochter Ute Maler und ihr Mann Werner Mahler haben Berka an der Wipper fotografiert, in den 50er Jahren, in den 70er Jahren, in den 90ern und in den frühen 20ern.
Die Bilder von Ludwig Schirmer sind eine echte Augenweide und eine Fundgrube um eine bildhafte Vorstellung der 50er Jahre zu bekommen. Zum einen hat er einen sehr eigenen Blick zum anderen fängt er Typisches ein.
Werner Mahler hat zweimal in Berka fotografiert. Einmal in den 70ern für die für seine Abschlussarbeit an der Hochschule Leipzig (1977 bis 1978) und ein zweites Mal in der Nachwendezeit (1998) für eine Reportage, die nie veröffentlicht wurde, die Bilder waren wohl nicht vereinigungsjublerisch genug. Die Bilder von Werner Mahler schließen sich insofern an die von Ludwig Schirmer an, als die Szenen aus dem Alltag zeigen.
Ein kleines Zwischen-Essay von Stefan Mau ordnet die Bilder in soziologische zeitgeschichtliche Zusammenhänge ein. Nachkriegszeit, DDR-Zeit, Nach-Wende-Zeit und Jetzt-Zeit. Die Bilder von Werner Mahler aus den 70ern sind zum Teil thematisch geordnet. Sie zeigen kurze Serien zu einem Thema z.B. eine 82-jährige Bäuerin oder ein Kräutersammler, eine Jugendweihefeier und ein Kinderfest, Kommunikationszentren wie der `Konsum´ und die `Bäckerei´, ein Schlachtfest oder ein Fußballspiel. Dazu Bilder von verschiedenen Generationen. 20-Jährige, 30 -jährige, 40-jährige etc. Darin zeigt sich das schon bei der Entstehung der Bilder ein gewisser soziologischer Blick Pate gestanden haben könnte. Wen wundert das in den 70ern.
Ganz anders bei den Bildern aus den 90ern, hier scheint der Fokus auf Einblicke in das veränderte Leben gerichtet zu sein, man erkennt die eine oder andere Situation wieder, aber der Kontext ist neu. Der Konsum nimmt Fahrt auf.
Ute Maler findet, als sie 2021 bis 22 nach Berka geht, um zu photographieren, ein vervorstädtertes Dorf, gesichtslose Fassaden, alles sauber isoliert und gefegt. Die Menschen treffen sich nicht mehr auf der Straße, sie arbeiten nicht mehr zusammen auf den Feldern oder im Bergbau. Gibt es alles nicht mehr, lohnt sich nicht mehr. Um die jungen Leute im Dorf zu photographieren, musste sich mit ihnen verabreden, um sie in der Landschaft ablichten zu können. Jenny Eppendorf fasst das Ende dieser Geschichte treffend zusammen:
“Die Unumkehrbarkeit des Verschwindens dieser Art von Welt scheint in den Bildern von Werner Mahler vorausgeahnt. Was die Technik dem Menschen an Mühe abnimmt, was die Wirtschaft dem Menschen an Arbeit wegnimmt, nimmt sie ihm auch Geselligkeit und Solidarität weg. Was nicht bei der Arbeit durch gemeinsame Not, gemeinsam Mangel zusammengezwungen, nicht durch gemeinsamen Erfindergeist und Verantwortung zusammengehalten wird, vereinzelt sich auch nach Feierabend.”
Was bleibt sind die Menschen, die allerdings in den Portraits von Ute Mahler doch recht nachdenklich dreinschauen und der Erbsbär. Eine Tradition nach der sich ein in Erbsstroh gehüllter Mensch zu Faschingszeit in den Straßen rumtreibt, in den Fünfzigern, in den Siebzigern und in den Neunzigern. Er taucht auch 2021 noch einmal auf, bezeichnenderweise auf einer leeren Straße ein Auto anhaltend.
I can’t understand how anyone could not be enthusiastic about this book . In any case, I immediately became curious. Apart from that, “Hartmann books” has become a real treasure trove, at least as far as my taste is concerned. Now in August, for example, the book ‘Erbgericht’ by Andrea Grützner is due to be published, a project that really breaks new ground in exploring old stories.
But back to the village. The fact that three renowned photographers have documented a small village in Thuringia over decades is more than a coincidence, one might almost say a stroke of luck. Contemporary history from 1950 to the early 20s of our century shown by what can be seen on the periphery, in the province. As Anja Maier’s introduction makes clear, it is a family affair. Ludwig Schirmer, his daughter Ute Mahler and her husband Werner Mahler photographed Berka an der Wipper in the 1950s, in the 1970s, in the 1990s and in the early 1920s.
Ludwig Schirmer’s pictures are a real feast for the eyes and a treasure trove for getting a visual idea of the 1950s. On the one hand, he has a very unique view and on the other, he captures the typical.
Werner Mahler has photographed Berka twice. Once in the 70s for his final thesis at Leipzig University (1977 to 1978) and a second time in the post-reunification period (1998) for a reportage that was never published, the pictures were probably not jubilant enough. Werner Mahler’s pictures are similar to those of Ludwig Schirmer in that they show scenes from everyday life.
A short essay by Stefan Mau places the pictures in the context of contemporary sociological history. The post-war period, the GDR period, the post-reunification period and the present day. Some of Werner Mahler’s pictures from the 70s are organised thematically. They show short series on a theme, e.g. an 82-year-old farmer’s wife or a herb gatherer, a youth consecration ceremony and a children’s party, communication centres such as the ‘Konsum’ and the ‘bakery’, a slaughter festival or a football match. In addition, pictures of different generations. 20-year-olds, 30-year-olds, 40-year-olds, etc. This shows that a certain sociological view could have been the inspiration for the creation of the pictures. No wonder in the 70s.
The pictures from the 90s are completely different, here the focus seems to be on insights into the changed life, one recognises one or the other situation, but the context is new. Consumption picks up speed.
When Ute Mahler goes to Berka in 2021-22 to take photographs, she finds a suburbanised village, faceless facades, everything neatly isolated and swept clean. People no longer meet on the street, they no longer work together in the fields or in the mines. None of this exists any more, it’s no longer worthwhile. To photograph the young people in the village, you had to make an appointment with them so that you could take pictures of them in the countryside. Jenny Eppendorf aptly summarises the end of this story:
“The irreversibility of the disappearance of this kind of world seems foreshadowed in Werner Mahler’s pictures. What technology takes away from people in terms of labour, what the economy takes away from people in terms of work, it also takes away from sociability and solidarity.
What is not held together at work by common need, common want, not held together by a common spirit of invention and responsibility, also disunites after work.”
What remains are the people, although they look rather pensive in Ute Mahler’s portraits, and the pea bear. A tradition according to which a person wrapped in pea straw roams the streets at carnival time, in the fifties, in the seventies and in the nineties. He appears once again in 2021, characteristically stopping a car on an empty street.
Beeindruckend und wichtig.