Menu Close

Gedanken über das Sehen / Thoughts On Seeing

Wie über viele andere Selbstverständlichkeiten denkt man normalerweise auch nicht viel über das Sehen nach. Man sieht – na und?!

Spätestens seit Marshal MacLuhan‘s Buch über die Gutenberg-Galaxis wissen wir aber, dass der Gebrauch unserer Sinne kulturell geprägt ist. Es ist daher keineswegs selbstverständlich, wie wir sehen. Unsere Sehgewohnheiten sind durch gesellschaftliche Gepflogenheiten (Konventionen) geformt. In anderen Kulturen wird die Welt anders wahrgenommen.

Das Fotografieren kann ein interessanter Weg sein, die eigenen Sehgewohnheiten zu entdecken und zu reflektieren. Man kann die eigene Welt dadurch erweitern, vergrößern, verdichten, bunter oder spannender machen. Und das Interessante und Spannende muss nicht unbedingt die Location sein, die gerade auf Instagram der absolute Hype ist. Es kommt ganz darauf an, ob man es schafft, das eigene Sehen zu befreien. Der Weg dorthin ist allerdings nicht ohne ein gewisses Maß an Erschrecken möglich.

Wir leben in einer Welt, in der wir als Konsumenten, grob gesagt, die Funktion von Nutztieren haben. Besonders deutlich wird mir das immer in den großen Supermärkten. Da wird der Blick durch die Beleuchtung und das Arrangieren der Waren in einem bestimmten Blickwinkel gehalten. Erst wenn man beispielsweise mit der Smartphone-Kamera diese Räume mit den unglaublich hohen Decken aufnimmt und sich die Bilder anschaut, wird einem deutlich, in was für einem bizarren Gebilde man da unterwegs ist. Die Kamera ist nicht von den Tricks der Marketingleute am “Point of Sales” beeinflusst, sie bildet die Wirklichkeit „objektiv“ ab.

Auch im Urlaub blendet man in der Regel alles aus, was nicht der Wirklichkeit der Werbebilder entspricht. Man geht auch möglichst nur dorthin, wo es genauso aussieht. Wer macht schon ein Selfie vor dem Omnibusparkplatz oder der Baustelle der Hauptverkehrsstraße?

Weder unser Sehen ist frei, noch die Art, wie wir fotografieren. Unsere Vorstellungen von dem was schön ist, sind massiv von der Ästhetik der Werbung beeinflusst. Im Vergleich mit der Wirklichkeit unserer Bildmedien kann die Realität inzwischen einfach nicht mehr mithalten. Aber man kann Gott sei Dank mit Photoshop oder den praktischen Filtern auf dem Smartphone rasch und gründlich „optimieren“.

Wir wollen überwältigt werden. Der Fachbegriff hierfür lautet „Wow!“ Wir blenden dafür unglaublich viel aus und sind uns dessen nicht bewusst. Ich halte uns für erfolgreich manipuliert. Wir sehen sehr viel von dem was wir sehen sollen. Wir suchen in unserer Wirklichkeit die aktuell akzeptierte Schönheit. Aber diese glatte Schönheit und die daraus resultierenden glatten, oberflächlichen und letztlich Inhaltslosen Bilder sind die Projektionen unserer Wünsche, die von der Werbe- und Unterhaltungsindustrie geweckt werden.

Ich habe seit einigen Monaten damit angefangen, bewusster zu sehen. Ich gehe langsamer durch die Welt und bleibe öfter stehen. (Spötter mögen einwenden, das sei wegen des Alters). Dazu schaue ich mir Dinge und Menschen absichtslos an und lasse sie auf mich wirken. Ich sehe sie mir lange an, gehe öfter zu bestimmten Orten und Menschen und mache sie mir und mich mit ihnen vertraut. Und ich habe das Gefühl, dass dadurch mein Sehen freier geworden ist und meine Welt deutlich interessanter und spannender.

Die daraus resultierenden Bilder haben keinen „Wow“-Effekt. Sie eignen sich nicht zum „flickrn“. Sie erschließen sich nur durch intensives Betrachten. Es mag sein, dass diese Bilder irritierend wirken. Ich persönlich finde die Tatsache irritierend, dass so viel Wirklichkeit ausgeblendet wird.

„Es ist ein leichtes, seine Wahrnehmung abzuschalten, das ist nichts Ungewöhnliches, eher der Regelfall. (…) Würden wir häufiger stehen bleiben und intensiver wahrnehmen, würde es viel mehr solcher Bilder geben. Doch wir sehen nur das, was wir sehen wollen. Alles andere blenden wir aus.“

Ausstellungskatalog „Hart am Wasser“ von Eva Bruhns und Jörg Schmiedekind
Zitat aus dem Vorwort von Stefan Reisner.

 

As with many other things you do not usually think about seeing. You can see – so what ?!

Yet, since Marshal MacLuhan’s book on the Gutenberg-Galaxy we know that the use of our senses is culturally shaped. The way we see is therefore by no means self-evident. Our habits of seeing are shaped by social customs (conventions). In other cultures, the world is perceived entirely differently.

Photography can be an interesting way to discover and reflect your own viewing habits. You can broaden your own world, make it bigger, more compact, more colorful or more exciting. And the interesting and exciting does not necessarily have to be the location, which is the absolute hype on Instagram right now. It all depends on whether one manages to free one’s own vision. However, the way to get there is not possible without a certain amount of fright.

We live in a world in which we as consumers bluntly spoken have the function of farm animals. This becomes especially clear to me in the big supermarkets. As the visitor’s view is being kept in a certain perspective by the lighting and arranging of the the goods. Only when you take photographs of these huge halls with those incredibly high ceilings and look at the pictures, it becomes clear in what kind of bizarre structure you are in. The camera can reveal this as it is not affected by marketing manipulation. It depicts reality “objectively”.

On vacation one usually ignores everything that does not correspond to the reality of the advertising images. Who would be taking a selfie in front of the omnibus parking lot or the construction site on main road to post it on Facebook or Instagram?

Our seeing is not free. Nor is our making of pictures. Our ideas of what is beautiful are massively influenced by the aesthetics of advertising. Compared to the virtual reality of our visual media, everyday life and the world as it is simply cannot compete anymore. But thank goodness reality can be mended quickly and thoroughly by means of Photoshop or the handy filters on your smartphone.

We want to be overwhelmed. The technical term for this is “Wow!” We therefore ignore very much of what is going on around us and are not aware of it. I think we are manipulated successfully. We see a lot of what we should see. In our reality we seek the currently accepted concept of beauty. But this sleek beauty and the resulting smooth, superficial and ultimately empty images are the projections of our desires aroused by the advertising and entertainment industries.

I’ve been starting to use my eyes more consciously for a few months now. I am walking slower through the world and do stop more often. (Scoffers might say it is because of my age…) I look at things and people without intention and let them work on me. I look at them for a long time. I go to certain places and people more often, and try to familiarize them with me and me with them. And I get the feeling that this has freed my vision and made my world much more interesting and exciting.

The resulting images do not have a “wow” effect. They are not suitable for “flickring”. They only become accessible through intensive observation. The pictures may be irritating at first. Personally, I find the fact irritating that so much reality is being faded out.

“It’s easy to switch off your perception, it’s not unusual, it’s the norm. (…) If we were to stop more often and perceive more intensively, there would be many more such pictures. But we only see what we want to see. Everything else we fade out.”

Exhibition catalog “Hart am Wasser” by Eva Bruhns and Jörg Schmiedekind Quotes from the foreword by Stefan Reisner

3 Comments

  1. Anne-Marie Veith

    Wie unterschiedlich man etwas in anderen Kulturen als schön und fotogen empfindet, ist mir während unserer Zeit in Mexiko aufgefallen. Auf einer unserer Reisen haben wir eine Führung in einem Naturschutzgebiet gemacht. Der Führer wollte uns einen von Menschen angelegten Kaktusgarten als Highlight servieren. Das fand ich aber gar nicht spannend, sondern mich interessierte mehr die unangerührte Natur. Das konnte der Führer gar nicht so recht verstehen

    • Rolf Noe

      Ja, unser kultureller Kontext bestimmt weitgehend was unserer Aufmerksamkeit wert erscheint. Einmal durch Vorbild in der Werbung, in den Medien und bei den angesagten Photographen unserer Zeit. Zum zweiten aber auch durch die Negierung der herrschenden Vorlieben, wenn die Leute dann statt unsere hochglanzpolierte moderne und postmoderne Architektur abzubilden in verfallene Häuser einsteigen um dort den Schimmel abzulichten. Richtig Mut gehört dazu sich dem Langweiligen zuzuwenden. Pforzheim zum Beispiel. Man ist sich einig dass diese Stadt mangels historischer Bauten infolge effektiver Bombardements der Briten langweilig wenn nicht gar hässlich ist. Schaut man sich aber mal den Flickr-Stream von Harald ( http://www.flickr.com/photos/hwspies ) an wird man überrascht sein wie viele zumindest sehenswerte Ecken er in der Wiederentdeckung seiner Stadt aufgetan und ansprechend ins Bild gesetzt hat.

  2. Rolf Norgaard

    Nun, wenn man den Gedanken mit den Nutztieren weiterdenkt muss man feststellen, dass wir als Konsumenten kein Schlachtvieh sondern eher Milchvieh oder Legehennen sind. Zumindest in Friedenszeiten. Von daher betrachtet kann ja die Wahrnehmungsbreite nicht besonders groß sein. Man verdient sein Geld damit man nicht vom Fleisch fällt und man wird gemolken in Form von Wohn-, Energie- und Kommunikationskosten. Was sieht man? Der freie Bereich besteht in den Dingen, die man über die Grundbedürfnisse hinaus konsumiert. Hier muss man einiges investieren um seine Besonderheit unter Beweis zu stellen. Hier ist der Spielraum in dem man sich z B. fürs Photographieren entscheidet. Und hier kann man entweder den, durch die Konzerne vorgebahnten, Wegen folgen oder sich durchkämpfen zu Perspektiven, die eigentlich gar micht zu Wahl stehen und allenfalls geduldet sind.

Leave a Comment / Schreib einen Kommentar

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.