„Mein schönstes Gedicht
Ich schrieb es nicht
Aus tiefsten Tiefen stieg es
Ich schwieg es“
Mascha Kaleko
Als Andi und ich kürzlich unseren traditionellen Herbstausflug zum Sonnenaufgang am Wildsee unternommen haben, hat er mich damit überrascht, dass er keine Kamera mitgenommen hat. Diese spannende Unternehmung um 5 Uhr morgens war eigentlich immer ein Photo-Ausflug gewesen. Okay, er hatte sein iPhone dabei und hat auch gerade genug Aufnahmen gemacht, um seinen Status zu füllen – aber ansonsten wollte er den Anblick genießen und die Bilder als innere Bilder mitnehmen. So weit bin ich noch nicht. Ich habe zwar auch nicht mehr so viel photographiert, wie in den letzten Jahren, aber immerhin genug, um eine gute dreier Serie für Flicker und Insta abzuwerfen.
Irgendwie hänge ich noch daran, dass Bilder als Erinnerung aufbewahrt werden. Auch wenn ich rein rational verstehen kann, dass es nicht wirklich Sinn macht, eine Szenerie, die man schon x-mal abgelichtet hat, noch mal zur verewigen, nur weil ein paar Details anders sind als beim letzten Mal. So kann ich auch nicht wirklich nachvollziehen, wie man Bilder in seinen Status stellt, wo sie doch nach 24 Stunden wieder verschwinden. Naja, vom Kopf her ist mir schon klar, dass es sinnig ist dort Platz für die nächsten Bilder zu machen. Ich kämpfe ja auch mit der unliebsamen Tatsache, dass die Bilder auf Insta und Flickr, wenn sie mal zum Bodensatz abgesunken sind, so gut wie gar nicht mehr angeschaut werden – aber immerhin sind sie ja noch da dünkt mich – und dann fällt mir mein Instagram-Account ein, den ich verloren habe und der letztlich unwiederbringlich weg ist.
Ich denke an Situationen, in denen ich keine Kamera dabeihabe, oder keine Hand frei, weil ich gerade Auto fahre. Dann mache ich auch Bilder im Kopf. Das ist sogar viel einfacher als mit der Kamera, weil das Gehirn störende Elemente automatisch ausblendet.
Ich denke an Vivian Maier, die hunderte von Filmen belichtet hat, ohne sich darum zu kümmern, sie zu entwickeln oder Abzüge zu machen. Offenbar war ihr das Sehen und den Moment mit einem Klick zu markieren Abenteuer genug.
Ich denke an die von der litauischen Essayistin Alise Tifentale in „Photography without Images“ zu Bewusstsein gebrachte Tatsache, dass der Großmeister des Augenblicks Henri Cartier-Bresson sich nie groß darum gekümmert hat, wie seine Bilder entwickelt, ausgelichtet, betitelt oder gedruckt wurden. Er hat einfach seine Filme abgeliefert und den Rest Leuten überlassen, die dieses Handwerk besser ausführen konnten als er.
Ich denke auch an eine ganze Reihe von Beispielen von Bildern aus der frühen Photographiegeschichte, die uns komplett präsent sind, obwohl es sie schon lange nicht mehr gibt. Auf der Asphaltplatte von Niecephore Niepce ist, wenn es sie überhaupt noch gibt, nichts mehr zu sehen. Was wir kennen, sind lediglich geschönte Abzüge davon.
Peter Geimer zählt in dem Aufsatz „Was ist kein Bild? Zur Störung der Verweisung“ aus dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Ordnungen der Sichtbarkeit“ (stw) noch eine ganze Latte an frühen Fotografien auf, deren Chemie dafür gesorgt hat, dass auf dem Original nur noch ein paar hässliche Flecken zu erkennen sind, die uns aber dennoch dank der Tatsache, dass sie abfotografiert, reproduziert und digitalisiert worden als Ikonen der Photographiegeschichte präsent sind. Z.B. die von Louis Daguerre selbst verfertigte Daguerreotypie „Ansicht des Boulevard du Temple“ auf dem ein einzelner Mensch zu sehen war, weil er sich als einziger nicht bewegt hatte. Diese Platte gilt als die erste Photographie eines Menschen.
Dieses Verschwinden ist ein Prozess, der auch vor dem Digitalen nicht Halt macht. Wie viele Bilder CDs gibt es, die nicht mehr lesbar sind, weil die Daten korrumpiert oder das Format nicht mehr in Gebrauch ist. Ich möchte gar nicht auf die Festplatte mit meinen frühen digitalen Bildern gehen, weil ich bei gelegentlichen Besuchen schon festgestellt habe, dass einige der Bilder nicht mehr oder zumindest nicht mehr komplett dargestellt werden Fehler, die beim Umkopieren oder durch kleine Ausleselücken auf der Festplatte im Laufe der Zeit verursacht werden.
Der geneigte Leser wird sich zu Recht fragen was ich damit eigentlich sagen möchte. Es ist aber eher ein Rantasten an ein schwierig zu umschreibendes Problem. Nämlich die Frage wie abhängig die Bilder von ihren jeweiligen materiellen Trägern sind und ob unser Gehirn auch so ein Träger sein kann oder uns das nur vorspiegelt. Natürlich können wir uns an Bilder erinnern und manche sind ja förmlich eingebrannt in unser Nervensystem. Man denke an die schattenrissartigen Gesichter von ‚Marx‘ oder ‚Che Guevara‘ oder am Logos wie ‚Nike‘ oder ‚VW‘.
Eines auf jeden Fall ist in unserer Wahrnehmung und Erinnerung ähnlich wie in der Welt. Die Bilder tauchen auf, bleiben je nachdem wie eindrücklich sie sind mehr oder weniger lange sichtbar bzw. abrufbar und verschwinden unaufhaltsam irgendwann im allgemeinen Rauschen.
When Andi and I recently went on our traditional fall excursion to see the sunrise at Wildsee lake, he surprised me by not taking a camera with him. This exciting undertaking at 5 o’clock in the morning had actually always been a photo excursion. Okay, he had his iPhone with him and took just enough shots to fill his status – but otherwise he wanted to enjoy the view and take the pictures with him as internal images. I haven’t gotten that far yet. I haven’t taken as many photos as I have in recent years, but at least enough to produce a good series of three for Flicker and Insta.
Somehow, I’m still attached to keeping pictures as memories. Even if I can rationally understand that it doesn’t really make sense to immortalize a scene that you have already photographed x times just because a few details are different from the last time. I also can’t really understand how you can post pictures in your status when they disappear again after 24 hours. Well, I realize in my head that it makes sense to make room for the next pictures. I also struggle with the unpleasant fact that once the pictures on Insta and Flickr have sunk to the bottom, they are hardly ever looked at again – but at least they are still there, methinks – and then I remember my Instagram account, which I lost and which is ultimately irretrievably gone.
I think of situations where I don’t have a camera with me or don’t have a hand free because I’m driving. Then I also take pictures in my head. It’s actually much easier than with a camera because the brain automatically blocks out distracting elements.
I think of Vivian Maier, who exposed hundreds of films without bothering to develop them or make prints. Apparently, seeing and marking the moment with a click was adventure enough for her.
I think of the fact, brought to mind by the Lithuanian essayist Alise Tifentale in “Photography without Images”, that the grand master of the moment Henri Cartier-Bresson never paid much attention to how his pictures were developed, exposed, titled or printed. He simply delivered his films and left the rest to people who were better at this craft than he was.
I’m also thinking of a whole series of examples of images from the early history of photography that are completely present to us, even though they haven’t been around for a long time. There is nothing left to see on Niecephore Niepce’s asphalt plate, if it still exists at all. What we know of it are merely embellished copies.
In the essay “Was ist kein Bild? Zur Störung der Verweisung” from the anthology ‘Ordnungen der Sichtbarkeit’ (stw), which he edited, Peter Geimer lists a whole host of early photographs whose chemistry has ensured that only a few ugly spots are still visible on the original, but which are still present to us as icons of photographic history thanks to the fact that they have been photographed, reproduced and digitized. For example, the daguerreotype “View of the Boulevard du Temple” made by Louis Daguerre himself, in which a single person can be seen because he was the only one who had not moved. This plate is considered to be the first photograph of a person.
This disappearance is a process that does not stop at the digital. How many picture CDs are there that can no longer be read because the data has been corrupted, or the format is no longer in use? I don’t even want to go to the hard disk with my early digital pictures because I have already noticed on occasional visits that some of the pictures can no longer be displayed, or at least not completely, due to errors caused by copying or small read-out gaps on the hard disk over the course of time.
The reader will rightly wonder what I am actually trying to say. However, it is more of an approach to a problem that is difficult to describe. Namely, the question of how dependent the images are on their respective material carriers and whether our brain can also be such a carrier or only pretends to be one. Of course, we can remember images and some are literally burned into our nervous system. Just think of the shadowy faces of ‘Marx’ or ‘Che Guevara’ or logos such as ‘Nike’ or ‘VW’.
In any case, one thing is similar in our perception and memory as it is in the world. The images appear and, depending on how impressive they are, remain visible or retrievable for a longer or shorter period of time before disappearing inexorably at some point in the general noise.
Ja klar, ich stimme zu, unser Gehirn fungiert ebenfalls als Träger von Bildern – allerdings auf eine andere Weise als Fotos. Das Gehirn speichert Erinnerungen und Eindrücke in Form von neuronalen Verbindungen. Wenn wir an bestimmte Bilder denken oder sie uns vorstellen, aktivieren wir diese Verbindungen und rufen damit emotionale Reaktionen hervor. Einige Bilder sind so stark mit unseren Erfahrungen verknüpft, dass sie sich förmlich in unser Nervensystem einbrennen können. Wie du schreibst, sind die ikonischen Gesichter von Marx oder Che Guevara sowie Logos wie Nike oder VW perfekte Beispiele dafür: Sie sind nicht nur visuelle Symbole, sondern auch kulturelle Referenzen, die tiefere Bedeutungen tragen.
Meiner Meinung nach gibt es aber einen einen Unterschied zwischen dem Bild als physischem Objekt und dem Bild als mentale Vorstellung. Während unser Gehirn uns helfen kann, Erinnerungen abzurufen und Emotionen hervorzurufen, bleibt es doch eine subjektive Erfahrung. Wir interpretieren Bilder durch unsere eigenen Filter – unsere Erinnerungen, Emotionen und kulturellen Kontexte beeinflussen unsere Wahrnehmung. In gewisser Weise könnte man sagen, dass unser Gehirn sowohl ein Träger als auch ein Schöpfer von Bildern ist. Es spiegelt nicht nur wider, was wir gesehen haben, sondern formt auch neue Bedeutungen aus diesen Eindrücken.
Danke für diese Ergänzungen zu meinen Gedanken. Man könnte fast sagen, dass die Träger unserer inneren Bilder Verknüpfungen zu anderen Sinnesmodalitäten, Gefühlen, Gedanken, anderen Bildern und allerlei immateriellen mentalen Vorgängen sind. Sie dienen dann auch der Wiederauffindbarkeit auf eine faszinierende, nicht mit Verschlagwortung vergleichbare Art und Weise. Und diese inneren Bilder sind auf eine schwer beschreibbare Art fluide, verändern sich und verknüpfen sich dauernd neu, am wildesten, wenn wir träumen.
“Das Verschwinden” als Thema in der Fotografie war mir bisher nicht so bewußt. Danke für den Anstupser, Liebe Grüße!
Ich stelle in letzter Zeit auch fest, dass ich meine Kamera “vergesse” wenn ich einen Ausflug mache. Die Neigung nicht alles abzulichten, sondern den Augenblick intensiver zu genießen und in Kopf und Herz mitzunehmen wird mir auch immer wichtiger. Deswegen kann ich deine Gedanken dazu gut verstehen.