Ein Lieferwagen, der aussieht wie eine Kamera auf Rädern, steht in der Pforzheimer Theaterstraße zwischen A. K. T und dem Kreativzentrum EMMA. Der kleine LKW sieht nicht nur so aus – er ist eine rollende Kamera. Er ist das Kernstück eines partizipativen Projekts des französischen Künstlers JR (Jean-René). Der Fotograf und Streetart-Künstler hat weltweit eine Reihe fotografischer Projekte realisiert. Sie alle arbeiten mit großformatigen Portraits im öffentlichen Raum. Das Ziel ist stets, jenen Menschen eine Präsenz zu geben, die übersehen und benachteiligt werden. Sein Film „Augenblicke: Gesichter einer Reise“ mit der Fotografin und Filmemacherin Agnes Varda (†2019) wurde für einen Oskar als bester Dokumentarfilm nominiert.
Mitmachen
Für drei Tage ist „Inside Out“ zu Gast in Pforzheim. Jeder kann mitmachen. Es geht ganz einfach: Fragebogen ausfüllen, Einverständnis zum Verwenden des Bildes geben, und los geht es.
Michael und ich sind gekommen, zum schauen und mitzumachen. Also steige ich die Stufen zum Fotokabine hinauf, setze mich hin, das Gesicht zur Kamera. Eine Assistentin zieht den grauen Vorhang zu. Nach wenigen Sekunden blitzt es, und ich verlasse die Kabine wieder. Kurze Zeit später spuckt der Lieferwagen an der Seite mein Foto aus.
Ein eingespieltes Team klebt die Fotos auf die Nordwand des Alfons Kern Turms, die Fassade des benachbarten Kreativzentrums EMMA und pflastert damit den Inselsteg, der über die Enz führt. An drei Tagen werden so fast 700 Portraits gemacht und veröffentlicht.
Eine bunte Mischung
Ich scanne die Wand der Portraits mit den Augen – ob ich jemanden kenne, außer Michael natürlich? Ja, ein paar Bekannte sind dabei. Es fühlt sich gut an. Es hätten aber auch ein paar mehr sein können, denke ich. Alle Bilder sind gleich groß, alle haben die gleich Bedeutung, alle Gesichter sagen: ich bin hier und ich gehöre dazu, zu diesem Projekt, zu dieser Stadt. Und die Bilder zeigen, wie bunt und vielfältig die Stadt ist.
Mir gefällt bei dem Projekt vor allem, wie der öffentliche Raum beeinflusst wird. Es ist eine Art künstlerische Inbesitznahme des Quartiers an der Enz. Der öffentliche Raum wird als solcher sichtbar. Eine Wohltat in einer Zeit, in der viel soziale Interaktion in den virtuellen Raum verlagert ist.
Michaels Gedanken zum Projekt
Am meisten beeindruckte mich die Mischung von analogen und digitalen Prozessen. Hauptelement dabei ist – und das fiel mir erst beim zweiten „Blick“ auf – der Faktor Zeit. Die gleiche Aktion hätte auch vor 50 Jahren analog, durchgeführt werden können. Doch der Weg vom Aufnehmen des Fotos bis zum Hängen an der Wand hätte sich über mehrere Stunden oder Tage hingezogen. Das Digitalisieren führt also zu einer extremen Beschleunigung des Prozesses. Erst mit einigem zeit-lichen Abstand hat sich mir diese Metapher erschlossen.
Der zweite Aspekt formte sich in meinem Kopf mit dem Satz „vom Individuum zum Kollektiv“. Einzelpersonen, meistens fremd und anonym, lassen sich zu einer kollektiven Gemeinschaft formen. Und wenn ich dann, mit großem Abstand, die Hauswand betrachte, verschmelzen alle Individuen zu einem neuen „Organismus“. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Menschheit als Organismus, der an der Hauswand Erde befestigt ist und im Laufe der Zeit verwittern wird, wie das Papier an der Wand.
Weitere Info gibt es hier:
A.K.T.
Das denkmalgeschützte Treppenhaus der alten Alfons-Kern-Schule aus den frühen 50er-Jahren beherbergt das „AKATE“, das sich selbst als Ort für gesellschaftliche Diskurse und interdisziplinäres Labor der Zukunft bezeichnet. Es finden dort regelmäßig spannende Ausstellungen statt. Leiter ist der Künstler Janusz Czech.
EMMA (https://www.emma-pf.de/)
Das ehemalige Schwimmbad aus der Zeit des Jugendstils ist seit zehn Jahren ein Kreativzentrum für Freelancer*innen, Existenzgründer*innen, Jungunternehmen und Agenturen. Es ist verknüpft mit der nahegelegenen Hochschule für Design.
Bilder: Michael Maßberg und Harald Spies
A van that looks like a camera on wheels is parked in Pforzheim’s Theaterstraße between A. K. T and the EMMA creative centre. The small lorry doesn’t just look like one – it’s a camera on wheels. It is the centrepiece of a participatory project by French artist JR (Jean-René). The photographer and street artist has realised a series of photographic projects worldwide. They all work with large-format portraits in public spaces. The aim is always to give a presence to those people who are overlooked and disadvantaged. His film ‘Moments: Faces of a Journey’ with photographer and filmmaker Agnes Varda (†2019) was nominated for an Oscar for best documentary film.
Taking part
Inside Out’ will be a guest in Pforzheim for three days. Anyone can take part. It’s very simple: fill in the questionnaire, give your consent for the image to be used and off you go. Michael and I have come to watch and take part. So I climb the steps to the photo booth, sit down and face the camera. An assistant draws the grey curtain. After a few seconds there is a flash and I leave the booth again. A short time later, the van at the side spits out my photo. A well-coordinated team sticks the photos on the north wall of the Alfons Kern Tower, the façade of the neighbouring EMMA creative centre and uses them to pave the island footbridge that leads over the River Enz. Over three days, almost 700 portraits are taken and published.
A colourful mixture
I scan the wall of portraits with my eyes – do I know anyone, apart from Michael of course? Yes, there are a few acquaintances. It feels good. But there could have been a few more, I think. All the pictures are the same size, all have the same meaning, all the faces say: I am here and I belong to this project, to this city. And the pictures show how colourful and diverse the city is. What I particularly like about the project is how it influences the public space. It is a kind of artistic appropriation of the neighbourhood on the Enz. The public space becomes visible as such. A blessing at a time when a lot of social interaction has shifted to virtual space.
Michael’s thoughts on the project
I was most impressed by the mixture of analogue and digital processes. The main element here – and I only realised this on a second ‘look’ – is the time factor. The same action could have been carried out in analogue 50 years ago. But the process from taking the photo to hanging it on the wall would have taken several hours or days. Digitisation therefore leads to an extreme acceleration of the process. This metaphor only became clear to me after some time. The second aspect formed in my mind with the phrase ‘from the individual to the collective’. Individuals, usually strangers and anonymous, can be moulded into a collective community. And when I then look at the wall of the house from a great distance, all the individuals merge into a new ‘organism’. In my mind’s eye, I see humanity as an organism that is attached to the wall of the house and will weather over time, like the paper on the wall.
Further information can be found here:
The listed staircase of the old Alfons Kern School from the early 1950s is home to ‘AKATE’, which describes itself as ‘a place for social discourse and an interdisciplinary laboratory of the future’. Exciting exhibitions are regularly organised there. The director is the artist Janusz Czech.
The former swimming pool from the Art Nouveau era has been a creative centre for freelancers, start-ups, young companies and agencies for ten years. It is linked to the nearby University of Design.
Pictures: Michael Maßberg and Harald Spies