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Medien als Metaphern / Media as Metaphors

Auf die Idee bin ich gekommen als ich die Memoiren von meinem Vater mal gelesen habe, Das habe ich bisher nicht geschafft, weil ich sie bisher als unsäglich langatmig, wenn auch nicht langweilig empfunden und die Lektüre abgebrochen habe. Woran lag das? Mir wird jetzt klar, dass mein Vater sich bei der Verfertigung seiner „Memoiren“ an seinen Notizen zu einzelnen Events, aber noch viel mehr an den bei diesen Gelegenheiten entstandenen Photographien orientiert hat. Kein Wunder kommt kein Narrativ auf, kein Wunder ist das schwer zu lesen. Es ist eben kein überlanger Spielfilm, sondern es sind über 600 SW-Filme mit jeweils 36 Bildern ergänzt von mehreren Kartons voll Farbdias. Das gibt, auch wenn gelegentlich zusammengefasst wird, eine unendliche Aneinanderreihung von Einzelbilder.  Wertvoll aufgrund der darin festgehaltenen Daten und Fakten aber fast unlesbar.  Vielleicht hätte er, wenn er Filme gedreht hätte, sein Leben eher im Stile eines Drehbuches erzählt. Wie hat man sein Leben vor der Erfindung der Photographie erzählt? Vielleicht orientiert an dem Modell eines Kreuzweges, mit den wichtigsten Stationen und dem Weg dazwischen. Wie erzählt man heute sein Leben. Hoffentlich nicht als eine unendliche Aneinanderreihung von lustigen 15 Sekunden Clips. Vielleicht eher als Daily Soap oder auch als spannende Netflix-Serie. Das Leben als ein langes Bingewatching mit jähem Ende.

Wir verwenden die jeweils aktuellen Medien als Modell für unsere Erklärung der Welt und vor allem für unsere Selbsterklärung. Und wir schauen ein wenig ungläubig darauf zurück, wie man Erinnerungen als eine Art Photo-Archiv im Gehirn erklären konnte. Oder als Text, in dem alles fein säuberlich in unserem Gehirn niedergeschrieben wurde. Dass das Gedächtnis kürzere oder längere Filmszenen enthalten könnte, erscheint uns noch glaubhaft, aber wahrscheinlich sind es doch eher Dateien, die Verschiedenstes enthalten können, ein Netzwerk aus neuronal Festgehaltenem, so eine Art internes Internet, in dem man, mal mehr, mal weniger erfolgreich, nach Inhalten suchen kann.

Jahrhundertelang, genaugenommen seit der von Nietzsche so schön herausgearbeiteten „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ haben wir unsere Innenwelt als eine Art Theater- oder Opernbühne angesehen, auf der die verschiedenen mehr oder weniger dramatischen existenziellen Fragen verhandelt wurden. Dort fanden die entscheidenden Kämpfe statt und bis zu Freud hin wurden Väter ermordet, Könige von Thron gestoßen und wurde versucht zu den Müttern zurückzukommen.

I came up with the idea when I was reading my father’s memoirs. I haven’t managed to do that yet because I found them unspeakably long-winded, although not boring, and stopped reading them. Why was that? I now realize that my father based his “memoirs” on his notes on individual events, but even more so on the photographs he took on these occasions. No wonder there is no narrative, no wonder it is difficult to read. It is not an overlong feature film, but over 600 black-and-white films, each with 36 images, supplemented by several boxes of color slides. This results in an endless sequence of individual images, even if they are occasionally combined. Valuable because of the data and facts they contain, but almost unreadable. Perhaps if he had made films, he would have narrated his life more in the style of a screenplay. How was his life told before the invention of photography? Perhaps based on the model of the Stations of the Cross, with the most important stages and the path in between. How do we tell our lives today? Hopefully not as an endless series of funny 15-second clips. Perhaps more like a daily soap or an exciting Netflix series. Life as one long binge-watching session that comes to an abrupt end.

We use the current media as a model for our explanation of the world and, above all, for our self-explanation. And we look back in disbelief at how memories could be explained as a kind of photo archive in the brain. Or as a text in which everything is neatly written down in our brain. That the memory could contain shorter or longer movie scenes still seems plausible to us, but it is more likely to be files that can contain a wide variety of things, a network of neuronally stored information, a kind of internal internet in which we can search for content, sometimes more, sometimes less successfully.

For centuries, in fact since Nietzsche so beautifully elaborated the “birth of tragedy from the spirit of music”, we have regarded our inner world as a kind of theatre or opera stage on which the various more or less dramatic existential questions were negotiated. It was there that the decisive battles took place and, right up to Freud, fathers were murdered, kings were deposed from their thrones and attempts were made to return to the mothers.

Eher dramatisch finde ich Missverständnisse, wie sie der Behaviorismus im 20ten Jahrhundert vertrat, der das Modell von Radios und Fernsehern auf die Menschen übertragen hat. Das bekannte Sender-Botschaft-Empfänger-Modell geistert ja immer noch durch die Kommunikationsseminare für Manager und andere von Berufswegen der Kommunikation verpflichtete Lohnempfänger. Das begreift den Austausch zwischen Menschen als eine Art (zugegebenermaßen umkehrbare) Einbahnstraße.  Heut würde man eher Resonanz und Reziprozität betonen. 

Auch die Wissenschaft folgt dieser metaphorischen Logik. So wurde jahrzehntelang versucht im Gehirn für jede Region rauszufinden, wofür sie (z.B. in der Motorik) zuständig ist oder wo welche Sinneseindrücke im Gehirn aufgenommen werden (Homunculi). Das folgt dem Modell einer Maschine oder eines Gerätes, in dem jedes Bauteil seine Funktion hat und auch wenn alles verdrahtet ist, diese Funktion relativ exklusiv auszuführen hat. Seit man über Bildgebung live mit anschauen kann, welche Areale an einer Funktion beteiligt sind, werden eher wieder Kooperationen und Netzwerke als entscheidend angesehen. Kein Wunder, inzwischen sind ja auch unsere Geräte hoffnungslos miteinander vernetzt.

I find misunderstandings such as those represented by behaviourism in the 20th century, which transferred the model from radios and televisions to people, rather dramatic. The well-known sender-message-receiver model still haunts communication seminars for managers and other wage-earners who are professionally committed to communication. This understands the exchange between people as a kind of (admittedly reversible) one-way street. Today, one would rather emphasize resonance and reciprocity.

Science also follows this metaphorical logic. For decades, attempts have been made to find out for each region of the brain what it is responsible for (e.g. in motor function) or where which sensory impressions are received in the brain (homunculi). This follows the model of a machine or a device in which each component has its function and has to perform this function relatively exclusively, even if everything is wired. Since imaging has made it possible to see live which areas are involved in a function, cooperation and networks are once again seen as decisive. No wonder, our devices are now hopelessly interconnected.

Wahrscheinlich könnte ich die Liste noch ein schönes Stück weiterführen, aber ich hoffe, es ist klar geworden, worauf ich rauswill. Ich habe an der Geschichte der Medizin gelernt, dass die Wahrheit von heute, der Irrtum von Morgen ist. So funktioniert das halt. Wir lernen dazu und wir entwickeln unsere Technologien weiter. Und diese dienen uns dann als Modell dafür, wie wir funktionieren sollen. Das klingt erstmal ganz gut, aber ich habe Zweifel daran, dass wir auf diesem Wege lernen werden, wie wir wirklich ticken. Wir sind nun mal keine Maschinen oder Computernetzwerke, sondern im Grunde, wie Khalil Gibran es so schön gesagt hat „die Sehnsucht des Lebens sich selbst“.

I could probably go on and on with this list, but I hope it’s clear what I’m getting at. I have learned from the history of medicine that the truth of today is the error of tomorrow. That’s just how it works. We learn and we continue to develop our technologies. And these then serve as a model for how we should function. That sounds quite good at first, but I doubt that we will learn how we really tick in this way. We are not machines or computer networks, but basically, as Khalil Gibran put it so well, “the longing of life for life itself”.

11 Comments

  1. ulfurgrai

    Zu diesen interessanten Beobachtungen und Überlegungen nur eine kurze gattungstheoretische Anmerkung. Mir scheint, daß Tagebücher und Memoiren zwei grundsätzlich verschiedenen Textsorten zugehören. Während ein Tagebuch meist chronologisch, seriell, ohne ein vorgegebenes Ziel geführt wird, weil ja immer auf ein Ereignis ein nächstes folgt, sind Memoiren doch Lebensrückblicke, das bedeutet, der Schreibende blickt von einem später erreichten Standpunkt auf die bereits hinter ihm liegende Gesamtheit seines Lebens zurück und sieht möglicherweise Zusammenhänge, Verbindungslinien, Kausalitäten, wo Früheres zu Späterem geführt hat. Insofern sind Memoiren anders als Tagebücher in gewisser Weise retrospektiv teleologische Texte, die schon ein Ziel kennen, auf das die Erinnerungen hinlaufen.

    • Rolf Noe

      Völlig richtig, aber das war ja genau der Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Dass mein Vater als Struktur seiner Memoiren letztlich sowas wie den Filmstreifen gewählt hat. So ähnlich wäre es ein Tagebuch zu Memoiren umzuschreiben, in dem man die Daten rauslöscht (oder in den text einarbeitet) und es als laufender Text zusammenschreibt.

      • Rolf Noe

        Stefan hierzu:
        Auch das Tagebuchschreiben folgt zumindest impliziten Zwecken; und sei der Zweck auch nur die Sammlung von Material für spätere Verwendungen.
        Und´s Erzählen des eigenen Lebens: Will ich damit bei irgendwem Eindruck schinden; oder will ich mir damit vor allem selbst einen gewissen Überblick verschaffen; oder will ich aus abgeklärter Perspektive frühere Verfehlungen darstellen: Was ich erzähle und wie ich es erzähle – es wird sich wohl jedesmal unterscheiden.

  2. Rolf Noe

    Ein Luftpostkommentar von Stefan:
    Sein Leben erzählen – mittels Fotos und Text? Die Auswahl des zu Erzählenden und die Art, es zu erzählen – wie lässt sich das sinnvoll bestimmen, wenn nicht vom Zweck des Erzählens her? Und welche Zwecke könnte ich heute damit verfolgen, mein Leben zu erzählen?
    Beim kommunikativen Handeln (Handeln unter Verwendung von Sätzen oder auch Bildern) steht vor „simpler Reaktion“ allemal die Stellungname nicht nur mit Ja/Nein, sondern auch mit Enthaltung und Frage und – aufbauend auf der Frage – mit Zweifel und Überlegung. Und allein dies schon sperrt sich, würde ich doch sagen, massiv gegen jede naturwissenschaftlich-kausale Erfassung, Ein- und Zuordnung.

  3. Michael

    Hi Rolf, auch zweimal lesen hat nicht geholfen. Ich habe es nicht wirklich kapiert, worauf du hinaus wolltest (du fragst ja zum Ende: “Ich hoffe, es ist klar geworden…..”).
    Ehrlich gesagt wundert mich, dass du dich darüber wunderst, wie unlesbar die Texte deines Vaters sind und auch darüber, dass die Fotos kein „Narrativ“ hergeben. Ich habe zwar noch niemals Tagebuch geführt, aber, wenn ich’s s täte, dann ausschließlich für mich. Niemand müsste da was verstehen, außer ich .…vielleicht😉
    Aber ich verstehe dich als Blogger, Autor und Erzähler durchaus. Für diese Spezies ist es doch auch typisch zu fragen: wie erzählt man heute sein Leben? Ihr liebt es und euer Ziel ist es gerne, flüssig und häufig gelesen zu werden. Dein Tagebuch zu lesen, falls du eines führst, ist bestimmt ein Genuß.

    • Rolf Noe

      Wahrscheinlich ist es schwierig, weil sich die Ebenen ein wenig vermischen. Der eine Strang ist, was für ein Strukturmodell unterlege ich meiner Erzählung (Tagebuch, Familienalbum, Kreuzweg, Action-Film usw.)
      Und die andere Schiene ist, wie man immer die Medien, die gerade so in Benutzung sind als Erklärungsmodell nicht nur für sein Leben, sondern auch für das eigene Funktionieren oder Nicht-funktionieren usw. hernimmt. Im Zeitalter Gutenbergs (von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Einführung des Privatfernsehens) war das Modell eben der Text. Seither rutschen wir immer mehr in ein Zeitalter der Illustration durch Bilder, durch YouTube-Videos, durch animierte oder nicht animierte generierte Bilder/Bildfolgen/Videoclips. Die Modelle existieren auch nebeneinander. So ist der Text meines Vaters eben am Filmstreifen orientiert und der Blog daran, in möglichst weniger als 5000 Zeichen eine Geschichte zu erzählen, die von den Lesern verstanden wird. Offensichtlich nicht immer erfolgreich 🙂

  4. kopfundgestalt

    Ich schreibe Tagebuch, immer wieder.
    Lesbar höchstens für mich.
    Fotos auf dem Handy können als zusätzliche Erinnerungsstütze dienen.
    Das Tagebuchschreiben ist fast eine Überforderung – zumal es nicht alles Wesentliche enthalten kann. Zum Aufzeichnen von Gedanken/Stimmungen/Interaktionen aller Art fehlt die Zeit.

    • Rolf Noe

      Du lebst also noch weitgehend im Gutenberg-Universum. Bei den Handy-Bildern als Tagebuch bin ich mir nicht so sicher, als Form gehören sie noch zum linearen d.h. textuellen Denken, das sich im Feed abbildet, aber die Bilder haben eben auch Eigenschaften, die gern andere Verbindungen eingehen würden, wenn sie in anderer Form präsentiert würden.

      • kopfundgestalt

        Das ist durchaus richtig.
        Alles ist im Grunde relativ. Ich denke dabei immer an Kurosawas “Lustwäldchen”. Je nachdem, wann und wo ein Beobachter steht, nimmt er anderes wahr.

        • Rolf Noe

          Ein genialer, letztlich konstruktivistischer Film aus einer Zeit bevor es den Konstruktivismus überhaupt als philosophische Strömung gab.

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