How comes? Möchte man fragen, wenn man so einen Titel liest und damit ist der Haken schon gesetzt. Kurzerhand habe mir das Buch gekauft, natürlich in der Hoffnung auf eine schnelle leichte Antwort, ein paar Sätze, die sich in so einem Blog gut machen. Nee, zuerst will das Buch gelesen werden, dann verstanden, schließlich verdaut, in Beziehung gesetzt zu dem, was sonst hier so gesagt wird. Und dann vielleicht. Ich versuche es trotzdem einen ersten Eindruck zu formulieren. Lange hat mich ein Buch nicht mehr so gepackt, in Anspruch genommen und beeinflusst wie dieses. Es ist wie der Autor einen einer Stelle schreibt, als ob das Buch in meinem Kopf stattfinden würde.
Tim Carpenters Buch kommt in drei Kapiteln daher. Im Ersten wird kurz mal gesagt, wie die Welt so tickt, im zweiten wie Kunst funktioniert und im Dritten wird über die Photographie philosophiert. Die Überlegungen basieren auf dem Gedicht “Notes towards a supreme fiction” von Wallace Stevens einem amerikanischen Autor, der vor ca. 70 Jahren gestorben ist.
Die Philosophie habe ich so verstanden: Es gibt das Selbst, in das man sich verstrickt hat und es gibt den Rest, das Nicht-Selbst oder von mir aus die Welt. Wir selbst leben in Ideen, Illusionen, Fiktionen und Abstraktionen, die wir auf das Nicht-Selbst projizieren (Lacan, würde hier vom Imaginären sprechen). Diese Vorstellungen bestimmen unsere Wahrnehmung und verstellen uns gleichzeitig die Sicht auf das, was wirklich ist. Der unerfüllbare Wunsch, das Nicht-Selbst (Lacan würde sagen, das Reale) zu ergründen, erzeugt einen Schmerz, den manche in Form von Kunst zu verarbeiten suchen. Kunst entsteht in der Hoffnung auf der Basis unseres gesamten Wissens- und Erfahrungsschatzes auf die Gegenwart einwirken zu können, mit dem Ziel, die Zukunft zu verändern. Aber wir werden es nie schaffen unsere Vorstellungen, Wünsche und Imaginationen mit dem in Einklang zu bringen was ist.
Es gibt kein Jenseits, kein Nirvana, keine bessere Welt, sondern nur diese und wir sind durch unsere Bemühungen sie zu erfassen von ihr getrennt. Die Kunst ist vielleicht noch neben der Mystik der einzige radikale Versuch über diesen unseren Schatten zu springen und letztlich immer zum Scheitern verurteilt. Es ist ein wenig, wie wenn wir (mein Bild) auf einem Möbius-Band herumspazieren in der Hoffnung auf die andere Seite zu gelangen.
Im zweiten Kapitel geht Carpenter auf die Frage ein, wie ästhetische Objekte (Gedichte, Romane, Gemälde, Skulpturen etc.) sich konstituieren. Er zitiert Stevens, der in seinem Gedicht drei Hauptforderungen stellt:
Erstens: `it must be abstract´ (es darf eben nicht persönlich und konkret sein, sondern verallgemeinert, verdichtet und Allgemeingültig)
Zweitens: `it must change´ (es darf also nicht statisch sein, sondern dynamisch Veränderung zeigen/bewirken
Drittens: `it must give pleasure´ (was im Allgemeinen heißt, es soll schön sein oder interessant oder sonst wie Vergnügen bereiten.)
Er tritt den allgemeinen Vorurteilen entgegen, die vor allem von Interpreten verfolgt werden, in denen angenommen wird, das Kunstwerk stelle etwas dar, oder es habe irgendetwas mit der Biografie des Künstlers zu tun. Tatsächlich in dem Kunstwerk nur derjenige Teil des Nicht-Selbst erscheinen, der im Selbst eine Resonanz erzeugt. Genauso kann in einem Kunstwerk beim Betrachter, Leser oder Zuhörer nur das Wirkung entfalten, was ihn / sie berührt und das muss gar nichts damit zu tun haben, was im Künstler/in der Künstlerin den Impuls ausgelöst hat, das Kunstwerk zu schaffen. Es geht bei der Wirkung eines Kunstwerks nie in erster Linie darum, worum es in dem Kunstwerk geht (Inhalt), sondern immer darum, wie das, worum es geht, in seiner Form auf den Betrachter wirkt. Erst in zweiter Linie wird man sich den Inhalt ansehen, um zu verstehen, warum es gewirkt hat.
Im dritten Teil geht es wie schon gesagt um Photographie. Jetzt werden alle belohnt, die bisher durchgehalten haben. Carpenter zitiert schon im zweiten Teil John Szarkowski z.B. mit dem Satz
“a picture is about what it appears to be about”.
Tim Carpenter beginnt das Kapitel über die Photographie damit, dass er klarmacht, dass es ihm vor allem um den Teil des Bildermachens geht, der mit dem poetischen Prozess der Entstehung von Gedichten vergleichbar ist. Wesentliches Merkmal hierfür ist, dass das Werk eine eigene Realität konstituiert, die zwar aus der Begegnung des Photographen mit der Welt entsteht, aber weder mit der Biografie des Photographen noch mit den Tatsachen der Welt etwas zu tun hat.
Bei der Photographie besteht dies hauptsächlich in Beschränkungen, aus dem die Kreativität erwachsen kann, zum einen aus ihrer starken Bindung an das Faktische, das Vorgefundene und zum zweiten an die verschwindend kurze Dauer ihres Entstehens. Lebendig sein heißt in der Welt sein und nur begrenzte Zeit zu haben. Photographie arbeitet also mit dem gleichen Rohstoff wie unsere Alltagserfahrung.
Oft verwechseln wir interessante Bilder mit Bildern von interessanten Dingen oder Ereignissen. Wir denken, die Bilder werden dadurch interessanter, aber das Gegenteil ist der Fall. Es scheint so, als ob Bilder, die einfach etwas darstellen, insofern langweilig sind, als man nicht das Bedürfnis hat, sie länger oder noch einmal anzuschauen. Man erkennt, was darauf ist und damit ist der Zweck erfüllt. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass ein Bild, dann erst interessant wird, wenn der Betrachter mit dem Bild zu interagieren beginnt, wenn er beginnt sich mit dem Bild zu beschäftigen und damit zum Mit-Akteur der Frage wird, was das Bild zu bedeuten hat.
Ein Foto nimmt einen sehr kleinen Zeitraum und bewahrt ihn für einen sehr großen Zeitraum auf, unabhängig davon, was auf dem Foto zu sehen ist oder wer es gemacht hat, stellt es für den Betrachter/die Betrachterin immer auch eine Art Trost dar, eine Art Atempause im gnadenlosen Lauf der Zeit.
Es ist eigenartig mit der Kunst. Nie schafft sie es, das Reale, die Welt zu fassen zu bekommen, aber wenn sie gut ist, können wir als Hörer, Leser oder Betrachter in der Form, die die Auseinandersetzung des Autors mit dem Unerreichbaren hervorgebracht hat, unseren eigenen Kampf, wiedererkennen und verstehen und fühlen uns dann mit unserem Unzulänglichkeiten nicht mehr allein. Wenn ein Photo das schafft, kann es sowohl für den Autor als auch für den Betrachter einen Schritt in Richtung Selbsterkenntnis ermöglichen.
Disclaimer: Ich habe das Buch wie im Rausch gelesen, ich habe aufgeschrieben, was ich verstanden zu haben glaube, aber letztlich muss das nicht viel mit dem Buch zu tun haben. Es gibt sogenannte kreative Missverständnisse, bei denen etwas verstanden wird, was evtl. gar nicht gemeint war. Ich wünsche mir, dass euch beim Lesen meines Textes auch solche kreative Missverständnisse unterlaufen, sodass dann evtl. die Chance besteht, dass etwas komplett Neues dabei entsteht. Yes!
How comes? You want to ask when you read such a title and that’s the hook already set. Without further ado, I bought the book, of course in the hope of a quick and easy answer, a few sentences that would look good in a blog like this. Nah, first the book wants to be read, then understood, finally digested, put in relation to what else is said here. And then, maybe. I’ll try to formulate a first impression anyway. It’s been a long time since a book has gripped, engaged, and affected me as this one did. It’s like the author writes a passage as if the book were taking place in my head.
Tim Carpenter’s book comes in three chapters. The first briefly states what makes the world go round, the second how art works, and the third philosophizes about photography. The reflections are based on the poem “Notes towards a supreme fiction” by Wallace Stevens, an American author who died about 70 years ago.
I understood the philosophy in this way: there is the self in which one is entangled and there is the rest, the not-self or, if you want, the world. We ourselves live in ideas, illusions, fictions and abstractions that we project onto the not-self (Lacan, would speak here of the imaginary). These ideas determine our perception and at the same time obscure our view of what is real. The unfulfillable desire to fathom the not-self (Lacan would say the real) creates a pain that some seek to process in the form of art. Art is created in the hope of being able to influence the present on the basis of all our knowledge and experience with the aim of changing the future. But we will never manage to bring our ideas, wishes and imaginations into harmony with what is.
There is no beyond, no Nirvana, no better world, but only this one and we are separated from it by our efforts to grasp it. Art is perhaps still next to mysticism the only radical attempt to jump over our own shadow and ultimately always doomed to failure. It’s a bit like walking (my image) around on a Möbius strip hoping to get to the other side.
In the second chapter, Carpenter addresses the question of how aesthetic objects (poems, novels, paintings, sculptures, etc.) are constituted. He quotes Stevens, who makes three main claims in his poem:
First: `it must be abstract’ (it must not be personal and concrete, but generalized, condensed and universal).
Second: `it must change’ (it must not be static, but dynamically change).
Third: `it must give pleasure’ (which generally means it should be beautiful or interesting or otherwise give pleasure).
It counters the general prejudices, followed especially by interpreters, in which it is assumed that the work of art represents something or has something to do with the biography of the artist. In fact, in the work of art appear only that part of the non-self that creates a resonance in the self. In the same way, a work of art can only have an effect on the viewer, reader or listener that which touches him/her, and this has nothing to do with what triggered the impulse in the artist to create the work of art. The effect of a work of art is never primarily about what the work of art is about (content), but always about how what it is about in its form affects the viewer. Only secondarily we will look at the content to understand why it has had an effect.
The third part, as already mentioned, is about photography. Now all those who have persevered so far will be rewarded. Carpenter already quotes John Szarkowski in the second part, for example, with the sentence.
“a picture is about what it appears to be about”.
Tim Carpenter begins the chapter on photography by making it clear that he is primarily concerned with the part of picture-making that is comparable to the process of creating poems. The essential characteristic of this is that the work constitutes its own reality, which arises from the photographer’s encounter with the world, but has nothing to do with either the photographer’s biography or the facts of the world.
In the case of photography, this consists mainly in the limitations from which creativity can arise, on the one hand, from its strong attachment to the factual, the found, and, on the other hand, to the vanishingly short duration of its creation. To be alive means to be in the world and to have only limited time. Photography therefore works with the same raw material as our everyday experience.
We often confuse interesting pictures with pictures of interesting things or events. We think the images become more interesting, but the opposite is true. It seems that pictures that simply represent something are boring, in the sense that you don’t feel the need to look at them longer or again. One recognizes what is on it, and thus the purpose is fulfilled. Conversely, this means that a picture only becomes interesting when the viewer begins to interact with the picture, when he begins to engage with the picture and thus becomes a co-actor in the question of what the picture means.
A photograph takes a very small period of time and preserves it for a very large period of time, regardless of what is in the photograph or who took it, it always also represents a kind of comfort to the viewer, a kind of respite in the merciless passage of time.
It is strange with art. It never manages to grasp the real, the world, but when it is good, we as listeners, readers or viewers can recognize and understand our own struggle in the form that the author’s confrontation with the unattainable has produced, and then no longer feel alone with our inadequacies. When a photograph accomplishes this, it can provide a step toward self-knowledge for both the author and the viewer.
Disclaimer: I read the book as if in a frenzy, I wrote down what I think I understood, but in the end it doesn’t have to have much to do with the book. There are so-called creative misunderstandings, where something is understood that may not have been meant at all. I hope that you will also encounter such creative misunderstandings while reading my text, so that there might be a chance that something completely new will emerge. Yes!
Das Buch ist angekommen und ich habe auch schon angefangen zu lesen, allerdings bin ich noch hart von einer Erkältung benommen.
Eine Anmerkung brannte mir aber schon seit zwei Wochen auf den Fingern, und jetzt habe ich die Literaturliste durchstöbert und bin gleich auf den entsprechenden Titel gestoßen.
Die Idee, sich bei einem großen amerikanischen Dichter der ersten Hälfte des 20. Jh. Anregung zu holen, ist nämlich nicht neu. Und der betreffende Dichter war Williams Carlos Williams. Interessanterweise (hier beginnt mein Wikipedia-Wissen) hat er Wallace Stevens gekannt und beide wurden im späteren Verlauf zu einer Art Erzfeinde.
Das entsprechende Zitat von Williams (bei Robert Adams) lautet nämlich: “No ideas but in things.” Es ist genau das Gegenteil der Abstraktion, die, wie du schreibst, Stevens fordert.
Wenn wir die Kunst nicht hätten…
Guter Text, danke! Auch für Schreiberlinge (wie mich) sehr erhellend. Schöne Grüße
Danke für die Blumen. Tatsächlich wurde ich beim Schreiben von einer Welle der Begeisterung getragen.
Was mir auf die Schnelle zu deinem Text einfällt: Als sprechendes, regelgeleitetes Lebewesen ist der Mensch ein soziales Lebewesen und als „ich-sagender“ (mit dem Pronomen „ich“ zwar auf sich Bezug nehmender, sich dabei aber nicht identifizierender) und handelnder Mensch (soz. wider-solipsistisch) immer schon draußen in einer Praxis mit anderen; und in seinen Bemühungen, die soziale und auch natürliche Welt zu erfassen, ist er weder von der einen noch der anderen auf irgendeine grundsätzliche Weise getrennt.
Dass sich Künstler gern in einer scheinbar unüberwindlichen Trennung vom Rest der Welt gerieren, hängt zusammen mit ihrer Selbstvergatterung auf die Kapitalismus-geschichtlich erzeugte und „wie durch eine gläserne Wand“ vom restlichen gesellschaftlichen Zusammenhang getrennte Sphäre Kunst: Was immer ein Künstler im Glaskäfig auch tut, er selbst und seine Produkte bleiben drin und kommen ums Verrecken nicht raus. (Fast überflüssig zu sagen: Der Versuch, mittels Kunst die Sphären-Trennung zu überwinden, ist zum Scheitern verurteilt; und wenn man den Schmerz übers Scheitern dann mit weiterer Kunst betäubt, dann hat das, würde ich meinen, was schlicht Alkoholismusartiges.)
Wie schon öfters gesagt: Was Bilder betrifft – von etwas, mit dem nichts dargestellt wird, würden wir wohl kaum sagen, es sei ein Bild; und das, was einer mit seinen Fotos darstellt, ist letztlich nicht zu trennen von der Verwendung, die er von ihnen machen will. Und wenn man dann vom Inhalt irgendwelcher Bilder/Fotos spricht, dann kann sinnvollerweise damit zum einen das, was dargestellt wird (allgemein gesprochen: Gegenstände und ihre Beziehungen), gemeint sein; und zum anderen Sachverhalte, die über die kommunikative Verwendung der Bilder/Fotos ins Spiel kommen.
Ich würde sagen: Wenn nicht die „geballte Biografie“ eines Herstellers hinter seinen Bildern/Fotos steht, dann kann er mit diesen niemals wirklich in die Vollen gehen.
Dass eine platte Darstellung von irgendwas niemand hinterm Ofen vorlockt und dass man, will man – ob Bild oder Text – irgendwas von Qualität kreieren, sich vor allem auch um dessen Form bemühen muss (wobei zu bestimmen bleibt, was das in konkreten Fällen jeweils heißen sollte) – geschenkt!
Und klar: Bilder werden erst wirklich interessant, wenn man sich als Rezipient mit ihrem Sinn und ihrer Bedeutung auseinanderzusetzen beginnt.
Verstehst Du Dich selbst nicht als Künstler?
Stefans Antwort (per Mail übermittelt): Um Gottes willen – NEIN!
“Lebendig sein heißt in der Welt sein und nur begrenzte Zeit zu haben”. Großartige Reflexion über Kunst, Fotografie und Mystik, Du hast den Inhalt des Buches soi gut reflektiert, dass ich das Gefühl habe es nicht mehr lesen zu müssen. Und du hast mich inspiriert mal darauf zu schauen wie nah sich die Betrachtung/Erfahrung der Welt von Lacan, Wittgenstein und Zen ist.
Wenn mir das gelingt (zu inspirieren) dann bin ich soweit zufrieden. Alles Weitere liegt in der Hand des Zufalls (der früher Gott genannt wurde).
Hallo Rolf, ich bin begeistert von diesem Artikel, der sehr verständlich und verdichtet ist und einlädt, sich mehr mit diesen Themen und also mit dem Buch zu beschäftigen.
Zumindest wenn dich die spirituelle Dimension der Kreativität anzieht, ob nun als Künstler:in oder als Kunstbegeisterte:r.