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Taktiles Sehen / Taktile Vision

Rolf hat mich vor einiger Zeit damit geneckt, ich würde „Blumen-Porno“ produzieren. Anlass für seine Äußerungen waren meine Blütenportraits, die ich zwischenzeitlich auch auf der eigenen Homepage eingestellt habe.

Die besagten Bilder habe ich gewissermaßen hyperrealistisch gemacht, in bis zu 20-facher Vergrößerung, durch Fokus-Stapeln mit durchgehender Schärfe und einer überwältigenden Fülle an Details. Einzelne Pollenkörner sind zu erkennen, winzige Härchen auf den Stempeln und die Struktur der Zellen. Ich habe die Bilder sorgfältig retuschiert und z.B. allen Staub entfernt, von dem es auf jeder Blüte eine Menge gibt.

Motiviert zu diesen Arbeiten haben mich die Fotografien von Karl Bloßfeldt und die Gemälde von Georgia O’Keeffe. Bloßfeldt legte mit seinen Hauptwerk „Urformen der Kunst“ gewissermaßen ein Formenalphabet der Pflanzenwelt an. Man betrachtet seine Bilder staunend und man braucht oft eine Weile zu erkennen, was er abgelichtet hat. Vertraute Dinge wie Samenstände, Knospen, Blätter wirken fremd und neu.

Die Amerikanische Malerin Georgia O’Keeffe sagte: „Die meisten Menschen hasten umher und haben keine Zeit, sich eine Blume anzuschauen. Ich möchte, dass diese Menschen Blumen sehen, ob sie es wollen oder nicht.“ Sie schockierte Mitte der 1920er mit ihren großformatigen Blütenbildern. Man empfand die Gemälde damals als obszön.

Mir lag und liegt es daran, mit diesen Bildern zu genauerem, verweilendem Betrachten zu führen, ja, vielleicht zu verführen. Die Fotos sollen ein Mittel sein gegen das oberflächliche, nicht wahrnehmende „Überfliegen“ von Bildern, zu dem vor allem die Fotoplattformen verleiten. Ich verwende dazu den Begriff „taktiles Sehen“. Man soll gewissermaßen die Bilder mit den Augen erwandern und erkunden und dabei die vielen keinen Details entdecken.

Damals habe ich auf Rolfs kluge Neckerei die üblichen Abwehrstrategien aktiviert wie: „Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters – die Pornografie auch“, oder „Dem Reinen ist alles rein.“ Und so weiter.

Da hatte ich aber noch nicht Byung Chul Han‘s Transparenzgesellschaft gelesen. Das Buch hat mir Rolf inzwischen auch geliehen, der Schelm! Han wendet sich gegen die Verabsolutierung des Ausstellungswertes und die Distanzlosigkeit der Transparenz-Gesellschaft. Auch Han verwendet in den Begriff „taktiles Sehen“, aber unter radikal anderen Vorzeichen:

  • Die fehlende Distanz macht die macht die Wahrnehmung taktil und abtastend. Die Taktilität bezeichnet einen berührungslosen Kontakt, ein hautnahes „Aneinanderstoßen von Auge und Bild“.
  • Aufgrund fehlender Distanz ist keine ästhetische Betrachtung möglich, kein Verweilen möglich. Die taktile Wahrnehmung ist das Ende der ästhetischen Distanz des Blickes, ja, das Ende des Blicks.
  • Obszön ist die Hypervisibilität, der jede Negativität des Verborgenen, des Unzugänglichen und des Geheimnisses fehlt.

Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Seite 24 ff

Nun muss ich fragen: Sind meine Bilder tatsächlich obszön, pornografisch? Ist darin kein Verweilen möglich?

Rolf teased me some time ago that I would produce “flower porn”. The reason for his comments were my flower portraits, which I have put on my own homepage in the meantime.

I made the mentioned pictures hyperrealistic so to speak, in up to 20x magnification, using focus stacking for continuous sharpness and to produce an overwhelming abundance of details. Single pollen grains can be seen, tiny hairs on the stemen and the cell structure of the petals. I have carefully retouched the images and, for example, removed all dust, of which there is a lot on every flower.

The photographs of Karl Bloßfeldt and the paintings of Georgia O’Keeffe motivated me to do these works. With his main work “Urformen der Kunst”, Bloßfeldt created a formal alphabet of the plant world, so to speak. One looks at his paintings in amazement and it often takes a while to recognize what he photographed. Familiar things such as seeds, buds or leaves seem strange and new.

The American painter Georgia O’Keeffe said: “Most people rush around and don’t have time to look at a flower. I want these people to see flowers whether they want to or not.” She shocked in the mid-1920s with her large-format flower paintings. They were considered obscene at the time.

My concern was and still is to lead the viewers of my pictures to a closer, lingering contemplation. The photographs are meant to be a means against the superficial, imperceptible “flying over” of pictures, which is what the photographic platforms in particular tempt us to do. I use the term “tactile seeing” for this. In a way, one should wander and explore the pictures with one’s eyes and discover many details.

When Rolf teased me, I activated the usual defensive strategies on Rolf’s clever banter, such as: “Beauty is in the eye of the beholder – pornography too”, or “Everything is pure to the pure”. And so on.

I hadn’t read Byung Chul Han’s Transparency Society then. Rolf has lent me the book as well, the rascal! Han opposes the absolutisation of the exhibition value and the lack of distance of the Transparency Society. Han also uses the term “tactile seeing”, but with radically different connotations:

  • The lack of distance makes perception tactile and palpable. Tactility refers to a contact without touch, a very close “clash between eye and image”.
  • Due to the lack of distance, no aesthetic observation is possible, no lingering is possible. Tactile perception is the end of the aesthetic distance of the gaze, yes, the end of the gaze itself.
  • Hypervisibility is obscene, it lacks any negativity of the hidden, the inaccessible and the mysterious.

Byung-Chul Han, Transparency Society, page 24 ff

Now I have to ask: Are my pictures really obscene, pornographic? Is it not possible to linger in them?

Translated with www.DeepL.com/Translator (free version)

2 Comments

  1. Rolf Noe

    Es läßt sich anscheinend Niemand provozieren. Da ich ja aber in dem Beitrag auch persönlich angesprochen bin will ich doch ein paar Worte dazu sagen. Gestacte Macros neigen schon dazu eine Art ‘übernafürlicher’ Schönheit an den Tag zu legen. Dadurch kann es passieren, dass sie so ‘glatt’ wirken,dass der Blick daran ‘abrutscht’ und es nicht schafft dran zu bleiben. Dann bleibt es bei der emotionalen Wirkung und in Kommentar steht irgendetwas Lobendes aber es kommt nicht zur Auseinandersetzung mit dem Bild.
    Meine Bemerkung über die Pornographie bezog sich ursprünglich tatsächlich nur auf die Tatsache, dass es sich um die Reproduktionsorgane der Pflanzen handelt, die secundären Geschlechtsmerkmale, die benutzt werden, um Partner oder Bienen anzulocken. Das ist etwas, was wir gerne ausblenden. Wenn Jemand auf dem Balkan Stierhoden genießt wenden wir uns angeeckelt ab, verspeisen aber genüsslich die Embryonen der Pflanzen, trinken den Kälbern ihre Milch weg und machen Muttersäue zu Gebärmaschinen.

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