Klaus hat schon in seinem Kommentar zum Post über „Bilder und Daten“ darauf hingewiesen, aber ich brauchte noch einen Schubs durch einen Satz im Buch `Belichtungen´ von Steffen Siegel um mich auf die Spur zu bringen. Mit der Lektüre von Lunenfelds Essay `Digitale Fotografie. Das dubitative Bild´ von 2004 ist mir dann klar geworden, dass wir hier noch nicht mal ordentlich an der Oberfläche der Frage gekratzt haben, was eigentlich das digitale Bild vom Analogen unterscheidet. Und das ist nun mal die Voraussetzung, wenn wir verstehen wollen, was digitale Bilder mit uns machen. Der zitierte Satz war:
„in dieser Hinsicht muss die digitale Fotografie jetzt so verstanden werden, dass sie denselben Wahrheitsgehalt wie ein geschriebener Text besitzt.”
Aha! Ein Text. Warum? Weil das Bild komplett kodiert ist, übersetzbar in farbige Pixel die wiederum in Zahlenwerte und dann in Binärcode übersetzt und bei Bedarf wieder decodiert und in farbige Bilder auf dem Bildschirm oder jedem anderen Medium ausgegeben werden können. Wie ein Text erzählen Sie uns eine Geschichte, nur dass wir ohne Kontext nicht wissen, ob es sich um einen Sachtext oder eine Erzählung handelt. Nein es geht sogar noch einen Schritt weiter der Unterschied zwischen fiktional und nicht-fiktional gibt es für das digitale Bild gar nicht mehr. Die Manipulierbarkeit ist sozusagen in jede einzelne Zelle des Bildes eingedrungen. Es kann aber auch recht Wirklichkeitsgetreu sein, das ist das Problem – die Unentscheidbarkeit in diesem fließenden Übergang zwischen Wahrheitstreue (Indexikalität) und dem Grad an Abweichung vom Vorbild oder zwischen Sachtext und fiktionaler Text. So als ob wir einen Text in der Hand bekämen ohne dass er als Erzählung Reportage oder sonst was gelabelt ist.
Und der seit Anbeginn der Fotografie grassierende Streit zwischen denjenigen die die Fotografie als Dokument und Kommentar der Welt sehen wollen und jenen die sie für den künstlerischen Ausdruck nutzen wollen wird dadurch ebenfalls weggeschwemmt. Übrig bleibt das dubitative Bild wie Lunefeld es nennt, dass uns im Zweifel lässt über den Grad seiner Entfernung von dem, was wir mit unseren Augen sehen können. Alle Stile, Ambitionen, Ausdrucks- und der Dokumentationsbedürfnisse werden davon aufgenommen und in einer Flut klinisch toter, weil bis zur schmerzgrenze geschönter, Bilder hinweggeschwemmt.
Byung-chul Han geht in seinem Büchlein `Transparenzgesellschaft´ von 2013 sogar noch einen Schritt weiter. Er erinnert daran, dass Walter Benjamin für das analoge Bild gegenüber der Malerei schon das Verschwinden der Aura des Einzigartigen beklagt hatte und weißt dann darauf hin, dass der digitalen Photographie zusätzlich auch noch das Negativ und die Entwicklung (sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne) abhandengekommen sind. Mit dem Zeitgehalt geht dem digitalen Bild aber auch die Trauer, die Roland Barthes als Essenz des analogen Bildes destilliert hatte sowie die narrative Spannung, die Romantik und die Dramatik des Romans verloren. Was bleibt ist der Ausstellungswert des Bildes als Werbung und Ware zugleich. Byung-Chul Han konstatiert:
„In der ausgestellten Gesellschaft ist jedes Subjekt sein eigenes Werbeobjekt. Alles bemisst sich an seinem Ausstellungswert. Die ausgestellte Gesellschaft ist eine pornographische Gesellschaft. Alles ist nach außen gekehrt, enthüllt, entblößt, entkleidet und exponiert. Der Exzess der Ausstellung macht aus allen eine Ware, die ohne jedes Geheimnis dem unmittelbaren Verzehr ausgeliefert ist.“
Klaus has already pointed this out in his comment to the post about “Pictures and Data”, but I needed another push by a sentence in the book ‘Exposures’ by Steffen Siegel to get me on the track. By reading Lunenfeld’s essay ‘Digital photography. Das dubitative Bild’ from 2004 it became clear to me that we haven’t even scratched the surface of the question of what actually distinguishes the digital image from the analogue. And that is the prerequisite if we want to understand what digital images do to us. The quoted sentence was:
“in this regard, digital photography must now be understood to have the same truth content as a written text.”
Aha! A text. Why? Because the image is completely encoded, translatable into colored pixels, which in turn can be translated into numerical values and then into binary code, which can be decoded again if necessary and output into colored images on the screen or any other medium. Like a text, you tell us a story, except that without context we don’t know whether it is a factual text or a narrative. No, it even goes a step further – the difference between fictional and non-fictional no longer exists for the digital image. The manipulability has, so to speak, penetrated every single cell of the image. But it can also be quite true to reality, that is the problem – the undecidability in this fluid transition between truthfulness (indexicality) and the degree of deviation from the model or between factual text and fictional text. It is as if we had a text in our hands without it being labelled a narrative, a reportage or anything else.
And the controversy between those who want to see photography as a document and commentary of the world and those who want to use it for artistic expression is also washed away by this. What remains is the dubitative image, as Lunefeld calls it, which leaves us in doubt about the degree of its distance from what we can see with our eyes. All styles, ambitions, expressive and documentary needs are taken up and washed away in a flood of clinically dead pictures, pimped up to the pain threshold of beauty.
Byung-chul Han even goes one step further in his booklet ‘Transparency Society’ from 2013. He recalls that Walter Benjamin had already lamented the disappearance of the aura of the unique in the analog image as opposed to painting, and then points out that digital photography has also lost the negative and the development (both in a direct and figurative sense). With the loss of timefulness, however, the digital image also loses the sadness that Roland Barthes distilled as the essence of the analog image, as well as the narrative tension, the romanticism and the drama of the novel. What remains is the exhibition value of the image as both advertising and merchandise. Byung-Chul Han states:
“In the exhibited society, each subject is its own advertising object. Everything is measured by its exhibition value. The exhibited society is a pornographic society. Everything is turned outside, revealed, exposed, stripped and exposed. The excess of the exhibition turns them all into a commodity that is at the mercy of immediate consumption without any secrecy.”
Translated with the help of www.DeepL.com/Translator
“— die Unentscheidbarkeit in diesem fließenden Übergang zwischen Wahrheitstreue (Indexikalität) und dem Grad an Abweichung vom Vorbild oder zwischen Sachtext und fiktionaler Text. So als ob wir einen Text in der Hand bekämen ohne dass er als Erzählung Reportage oder sonst was gelabelt ist.”
Genau das beschreibt das gegenwärtge Dilemma – auch über das Thema Fotografie hinaus. Denn die Medien – in diesem Fall das digitale Bild – bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen. Das, was man mal Wahrheit oder so genannt hat, ist dabei irgendwie abhanden gekommen. Die Wirklichkeit ist nur eine von vielen Möglichkeiten, jederzeit editierbar.
Die Frage der Rolle des Codes hinter digitalen Bildern beschäftigt mich auch immer wieder. Eine tolle Glitch Art Tulpe hast du als Beitragsbild gewählt.
Naja, sonst sieht man dem Bild ja nicht an, dass es digital ist. Erst der glitch zeigt die Pixelung. Codierungsfehler!
Es gibt da sicher noch mehr dazu zu sagen, aber das muss ich mir erst nach und nach erarbeiten.
Codierungsfehler, die man selbst absichtlich produziert sind jedenfalls angenehmer als jene anderen …