Wahrscheinlich hätte ich es mir auch sparen können, aber ich war gleich zweimal drin. Die Rede ist vom neuen Kunstmuseum in Tübingen. Das, vorweggesagt, seinen Namen nur dann verdient, wenn man Kunst inklusiv denkt und eine möglichst breite Bevölkerungsschicht damit ansprechen will. Der Bau ist nicht uninteressant, aber eben vom Typ „White Cube“ mit viel Licht und so. Wie sich’s gehört.
Über den Künstler habe ich schon mal berichtet, und zwar anlässlich seines „Hauptberufes“ als Musiker. Bezeichnenderweise habe ich den Artikel „Udopium für das Volk“ genannt und kurz gesagt Ähnliches gilt auch für sein Hobby die Malerei. Soll nicht abwertend rüberkommen aber die „Kunstwerke“ richten sich an die Fans, an die Weggefährten, letztlich an alle, die alt genug sind, um noch mitbekommen zu haben, dass es mal zwei Staaten gab in Deutschland. Aber auch an alle, die bereit sind für ein buntes, kleines Flurbild 2t€uer+ oder für ein Wohnzimmerbild 20t€uer+ auszugeben. Der Mehrwert ist nicht von der Hand zu weisen. Jeder Besucher erkennt sofort, wer der Künstler war, und schon haben wir ein Gesprächsthema.
I probably could have saved myself the trouble, but I went there twice. I’m talking about the new art museum in Tübingen. Let me say up front that it only deserves its name if you think of art as inclusive and want to appeal to as broad a section of the population as possible. The building is not uninteresting, but it is of the “white cube” type, with lots of light and so on. As it should be.
I have already reported on the artist, namely on the occasion of his “main profession” as a musician. Significantly, I called the article “Udopium for the People” and, in short, the same applies to his hobby of painting. I don’t mean to sound disparaging, but the “artworks” are aimed at fans, companions, and ultimately anyone old enough to remember that there were once two states in Germany. But also to anyone who is willing to spend €2,000+ on a colorful little hallway painting or €20,000+ on a living room painting. The added value cannot be denied. Every visitor immediately recognizes who the artist was, and suddenly we have a topic of conversation.
Die Ausstellung und das Programm dieses Museums erinnern mich an das Buch „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“ von Wolfgang Ulrich, in dem er sehr schön aufzeigt, wie sich die Kommerzialisierung der Kunst sich zunehmend auf ihre Inhalte auswirkt. Es scheint eine Transformation stattzufinden, in der sich die Kunst nicht nur (wie seit ehedem) an Geldgeber, sondern auch an Marken und politische Ausrichtungen anbindet, dadurch einerseits an Freiheit verliert, aber andererseits möglicherweise an Reichweite und an Wirkung gewinnt. In diesem Interview hat Ulrich seine Thesen kurz zusammengefasst.
Zum Gestern muss ich ein paar Wochen zurück gehen und für das, was wir in dieser Ausstellung zu sehen, bekommen haben mehr als hundert Jahre. Es geht nämlich um die frühen Jahre der Photographie in Tübingen. Es geht um Paul Sinner. Ohne die Führung von Freund Ti hätte ich das kleine Museum im Schönbuch gar nicht gefunden. Die Homepage des Dettenhausener Museums erwähnt die Ausstellung noch nicht mal.
Einmal und vor allem ist die Ausstellungen für diejenigen interessant, die sich mit Tübingen verbunden fühlen. Ich habe selbst dort 14 Semester studiert. Das war noch zu der Zeit, als man sich sein Studienfach nach Interessen und nicht nach zu erwartendem Gehalt ausgesucht hat. Und wenn einem das Stadtbild vertraut ist, dann ist es spannend zu sehen, wie es früher aussah. Die Neckarfront, das Schloss, das Rathaus und die „Klinik für Gemüts und Nervenkranke“ auf dem Berg. Das sind alles Stationen, die auch mit meinem Leben verbunden sind. In der Burse habe ich Philosophie studiert. Hinterm Stadtfriedhof (wo im Übrigen auch Sinners Grab steht) habe ich in der dortigen psychiatrischen Tagesklinik meinen Zivildienst gemacht. Damals habe ich nicht Sinners, sondern Hölderlins Grab in den Mittagspausen besucht, um dort mein Vesper einzunehmen. Dann steht man vor den Bildern und versucht die damaligen sepiabraunen Darstellungen mit den jetzigen Bildern zur Deckung zu bringen. Oder rauszufinden, wo auf dem Bild ein Gebäude reinpassen würde, das es damals noch nicht gab.
The exhibition and program of this museum remind me of the book “Art after the End of its Autonomy” by Wolfgang Ulrich, in which he beautifully illustrates how the commercialization of art is increasingly affecting its content. There seems to be a transformation taking place in which art is no longer tied solely (as it has been since time immemorial) to financial backers, but also to brands and political orientations, thereby losing freedom on the one hand, but possibly gaining reach and impact on the other. In this interview, Ulrich briefly summarized his theses.
For yesterday, I have to go back a few weeks, and for what we got to see in this exhibition, more than a hundred years. It’s about the early years of photography in Tübingen. It’s about Paul Sinner. Without my friend Ti’s guidance, I would never have found the little museum in Schönbuch. The Dettenhausen Museum’s website doesn’t even mention the exhibition.
First and foremost, the exhibition is interesting for those who feel connected to Tübingen. I myself studied there for 14 semesters. That was back when you chose your field of study based on your interests and not on the expected salary. And if you are familiar with the cityscape, it is exciting to see what it used to look like. The Neckar riverfront, the castle, the town hall, and the “clinic for mental and nervous disorders” on the hill. These are all places that are also connected to my life. I studied philosophy at the Burse. Behind the city cemetery (where, incidentally, Sinner’s grave is located), I did my community service at the local psychiatric day clinic. At that time, I didn’t visit Sinner’s grave, but Hölderlin’s, during my lunch breaks to eat my snack. Then you stand in front of the pictures and try to match the sepia-brown images of the past with the current images. Or to figure out where in the picture a building would fit that didn’t exist at the time.
Aber das ist nicht der einzige Grund, sich die Ausstellung anzusehen. Paul Sinner hat in seinen Bildern ein interessantes Stück Geschichte festgehalten und an seinem Beispiel kann außerdem noch ein spannendes Stück Photographiegeschichte aufgezeigt werden. Wie viele Photographen seiner Zeit war er natürlich auf Aufträge angewiesen. Vor allem Portraits, aber auch Stadtansichten und Bilder von Kunstaltertümern waren gefragt. Bilder von Menschen in Trachten zeigen, wie man sich damals festlich kleidete. Aber er war auch so eine Art früher Kriegsreporter. In der Ausstellung sieht man ein Bild seines in einem Ein-Pferd-Kutschenwagen untergebrachten mobilen Photolabors, mit dem er nach Straßburg gereist war, um die Zerstörungen zu dokumentieren, die der Krieg 1870 dort angerichtet hatte. An dem Bild kann man auch entdecken, wie schwierig Reportagephotographie damals war. Am rechten Bildrand ist wohl jemand zu lange stehen geblieben und somit als „Geist“ mit auf die Platte gebannt worden.
But that’s not the only reason to visit the exhibition. Paul Sinner captured an interesting piece of history in his pictures, and his example also illustrates an exciting piece of photographic history. Like many photographers of his time, he was naturally dependent on commissions. Portraits were particularly in demand, but cityscapes and pictures of art treasures were also popular. Pictures of people in traditional costumes show how people dressed up for festive occasions at that time. But he was also a kind of early war reporter. The exhibition features a picture of his mobile photo lab, housed in a horse-drawn carriage, with which he traveled to Strasbourg to document the destruction wrought there by the war in 1870. The picture also reveals how difficult reportage photography was at the time. On the right-hand edge of the picture, someone must have stood still for too long and was thus captured on the plate as a “ghost.”
Medienhistorisch ist auch interessant, dass es damals ja noch nicht möglich war, Photographien zu drucken. Oft musste erst ein Stahl- oder Holzstich nach dem Photo angefertigt werden, der dann gedruckt werden konnte. Bei den Stichen für den Druck in Büchern oder auf Postkarten wurden dann meist „unwichtige“ Details weggelassen, ein frühes Beispiel für die medienunabhängig verbreitete Praxis von Bildmanipulationen.
Sinner ist als „Umschüler“ zur Photographie gekommen. Er hatte Bäcker gelernt und sich dann aber beim Arbeiten in einer Maschinenfabrik die Finger so verletzt, dass er andere Berufe nicht mehr ausüben konnte. Er ging in die Lehre, beteiligte sich, nachdem er nach Tübingen eingeheiratet hatte, an einem Atelier und eröffnete nur zwei Jahre später ein Eigenes am Fuße des Österberges. Weitere Details über sein Leben kann man dem Wikipedia-Artikel oder diesem PDF entnehmen.
Die Ausstellung in Dettenhausen wurde von dem Tübinger Medienwissenschaftler Ulrich Hägele zusammengestellt, der auch ein sehr interessantes Buch über Bildmanipulation in der frühen Photographie veröffentlicht, über das ich vielleicht nochmal berichten Werde, sofern ich es zeitlich schaffe es zu lesen.
Die Ausstellung in Dettenhausen ist noch bis zum 2.11.2025 zu besichtigen. Das Stadtarchiv Reutlingen hatte aus seinen Beständen auch zum hundertjährigen Todestag Sinners eine Vitrinen-Ausstellung zusammengestellt.
From a media history perspective, it is also interesting to note that it was not yet possible to print photographs at that time. Often, a steel or wood engraving had to be made from the photograph before it could be printed. When engravings were made for printing in books or on postcards, “unimportant” details were usually omitted, an early example of the media-independent practice of image manipulation.
Sinner came to photography as a “retrainee.” He had trained as a baker, but then injured his fingers while working in a machine factory to such an extent that he could no longer pursue other professions. He went into apprenticeship, became involved in a studio after marrying into a family in Tübingen, and opened his own studio at the foot of the Österberg just two years later. Further details about his life can be found in the Wikipedia article (in german) or this PDF.
The exhibition in Dettenhausen was organized by Tübingen media scholar Ulrich Hägele, who also wrote a very interesting book on image manipulation in early photography, which I may report on again if I manage to find the time to read it.
The exhibition in Dettenhausen is open until November 2, 2025. The Reutlingen City Archives also put together a display case exhibition from its holdings to mark the centenary of Sinner’s death.
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