Das Johannesevangelium beginnt mit: „Am Anfang war das Wort…“ Etwas später heißt es an der Stelle, dass alles durch das Wort gemacht sei. Mir kommt es vor, dass dieser Satz auch in der Fotografie weit trägt. Der Titel einer Serie oder auch eines Einzelbildes lenkt die Aufmerksamkeit und bestimmt die Richtung, in der ein Bild oder eine Serie interpretiert werden. Man kann zum Beispiel auf einem Bild kaum erkennen, ob es sich um einen Sonnenuntergang oder um einen Sonnenaufgang handelt. Erst der Titel schafft Klarheit. Man kann natürlich genau das Gegenteil tun und den Betrachter eines Bildes zwingen selbst nachzudenken, indem man es unbetitelt lässt. Der Titel, den man einer Bildserie gibt, wirkt wie eine thematische Klammer und hält die Bilderreihe zusammen. Ob es sich nun um eine Bezeichnung für eine Serie oder um einen Untertitel zu einem einzelnen Bild handelt – immer entfaltet das Wort eine richtungsweisende Wirkung. Ein Sonderfall der Wort-Bild-Kombination sind „Memes“ – bekannte Fotos werden mit kurzen Texten kombiniert. Eine Google-Suche bringt reichlich Anschauungsmaterial. Auch hier machen die Worte den eigentlichen Sinn aus – bestimmte Fotos werden mit unterschiedlichen Texten kombiniert und ergeben jeweils andere Aussage. Es gibt auch sprechende Bilder. Was sie ausdrücken, lässt sich kaum in Worte fassen und Kommentare, Titel oder Erklärungen verfehlen ihre normale Wirkung. Das erlebe ich zum Beispiel, wenn ich Portraits sehe, die von Annie Leibovitz erstellt wurden. Wie lässt sich der Blick des jungen Leonardo di Caprio beschreiben? Augen sprechen eine Sprache jenseits aller Worte.
A small essay on the subject of word and picture
The Gospel of John begins with: “In the beginning was the word …” Somewhat later it says that everything is made by the Word. It seems to me that this sentence also carries far in photography. The title of a series or a single image draws the attention and determines the direction in which a picture or a series are interpreted. For example, you can barely see on a picture whether it is a sunset or a sunrise. Only the title creates clarity. Of course, one can do exactly the opposite and force the viewer of a picture to think for themselves by leaving it untitled.
The title given to a picture series acts as a thematic clip and holds the series together. Whether it is a label for a series or a subtitle for a single image – the word always unfolds a trend-setting effect.
A special case of the word-image combination are “memes” – familiar photos are combined with short texts. A Google search brings plenty of visuals. Again, the words make the point – certain photos are combined with different texts and each result in different statements.
There are also talking pictures. What they express can hardly be put into words and comments, titles or explanations miss their normal effect. That’s what I experience, for example, when I see portraits created by Annie Leibovitz . How would you describe the look of the young Leonardo di Caprio? Eyes speak a language beyond words.
Aber was würde passieren wenn man diesem Bild den Titel “Sonnenaufgang” oder “Sonnenuntergang” geben würde? Man würde es abhaken als schönes Bild und weiter gehen. Da es nicht klar ist, um was es sich handelt, zwinkt man den Betrachter, sich mit dem Bild zu beschäftigen. Der Betrachter sucht nach Indizien um herauszufinden, um was es sich handelt. Man sieht, was für
einen Einfluss der Titel auch haben kann.
BILD + TEXT = MEME
hier ein interessanter Text darüber, dass Memes schon vor den Internet da waren.
leider nur auf englisch (vieleicht hilft ja Herr Translator, einfach mal höflich fragen): https://medium.com/@Hugojude/memes-and-museums-e8ff69288759
Ja, ein schöner und erhellender Text über Meme. Die Einleitung ist ein Bißchen schwurbelig, aber wenn der Autor zur Sache kommt, wird es interessant. Den Gedenken von Dawkins kannte ich schon, die griechische Ableitung nicht.
Interessant ist auch die Reaktion auf das Bild in den sozialen Medien. Alle, die sich dazu haben verleiten lassen sich auf Sonnenauf- oder -untergang festzulegen, haben sich für den Sonnenaufgang entschieden. Auf facebook genauso wie auf Haralds flickraccount oder auf Meinem. Man kann hier sehr schön sehen wie beim fehlen eines eindeutigen Titels oder eines erläuternden Textes der Rückgriff auf das Weltwissen die Interpretation bestimmt. Den Rest erledigt die Logik. Morgens gibt es Nebel – auf dem Bild ist Nebel zu sehen – also ist es eine Sonnenaufgang. Oder: Rauhreif tritt vor allem morgens auf – auf dem Bild ist alles weiß – also ist es ein Sonnenaufgang. Eine einzige flickr-Frau hat eigentlich adäquat reagiert und nach der Himmelsrichtung gefragt. Aus der Antwort von Harald kann nicht nur Sie sich erschließen, dass alle Anderen auf dem Holzweg waren. Es gibt eben auch Abendnebel und Tage an denen der Rauhreif nicht wegschmilzt.
Einen Aspekt würde ich gerne noch hinzufügen. Der Titel lenkt die Aufmerksamkeit
und wirkt somit fast wie ein Filter. Indem die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt geleitet wird
werden zwangsläufig viele andere mögliche Aspekte ausgeblendet. Wie in diesem Bild (https://500px.com/photo/296244113/if-you-ain-t-got-that-swing-1-by-rolf-noe?ctx_page=1&from=user&user_id=1646243 ), wo der Blick statt den Schnee oder die Trostlosigkeit in den Blick zu nehmen durch den Titel Schwung bekommt und ins Musikalische abdriftet.
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Aber was würde passieren wenn man diesem Bild den Titel “Sonnenaufgang” oder “Sonnenuntergang” geben würde? Man würde es abhaken als schönes Bild und weiter gehen. Da es nicht klar ist, um was es sich handelt, zwinkt man den Betrachter, sich mit dem Bild zu beschäftigen. Der Betrachter sucht nach Indizien um herauszufinden, um was es sich handelt. Man sieht, was für
einen Einfluss der Titel auch haben kann.
BILD + TEXT = MEME
hier ein interessanter Text darüber, dass Memes schon vor den Internet da waren.
leider nur auf englisch (vieleicht hilft ja Herr Translator, einfach mal höflich fragen):
https://medium.com/@Hugojude/memes-and-museums-e8ff69288759
Ja, ein schöner und erhellender Text über Meme. Die Einleitung ist ein Bißchen schwurbelig, aber wenn der Autor zur Sache kommt, wird es interessant. Den Gedenken von Dawkins kannte ich schon, die griechische Ableitung nicht.
Interessant ist auch die Reaktion auf das Bild in den sozialen Medien. Alle, die sich dazu haben verleiten lassen sich auf Sonnenauf- oder -untergang festzulegen, haben sich für den Sonnenaufgang entschieden. Auf facebook genauso wie auf Haralds flickraccount oder auf Meinem. Man kann hier sehr schön sehen wie beim fehlen eines eindeutigen Titels oder eines erläuternden Textes der Rückgriff auf das Weltwissen die Interpretation bestimmt. Den Rest erledigt die Logik. Morgens gibt es Nebel – auf dem Bild ist Nebel zu sehen – also ist es eine Sonnenaufgang. Oder: Rauhreif tritt vor allem morgens auf – auf dem Bild ist alles weiß – also ist es ein Sonnenaufgang. Eine einzige flickr-Frau hat eigentlich adäquat reagiert und nach der Himmelsrichtung gefragt. Aus der Antwort von Harald kann nicht nur Sie sich erschließen, dass alle Anderen auf dem Holzweg waren. Es gibt eben auch Abendnebel und Tage an denen der Rauhreif nicht wegschmilzt.
Einen Aspekt würde ich gerne noch hinzufügen. Der Titel lenkt die Aufmerksamkeit
und wirkt somit fast wie ein Filter. Indem die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt geleitet wird
werden zwangsläufig viele andere mögliche Aspekte ausgeblendet. Wie in diesem Bild (https://500px.com/photo/296244113/if-you-ain-t-got-that-swing-1-by-rolf-noe?ctx_page=1&from=user&user_id=1646243 ), wo der Blick statt den Schnee oder die Trostlosigkeit in den Blick zu nehmen durch den Titel Schwung bekommt und ins Musikalische abdriftet.