„Es mangelt uns nicht an Kommunikation, im Gegenteil, wir haben zu viel davon. Es fehlt uns an schöpferischer Kraft. Es fehlt uns an Widerstand gegenüber der Gegenwart“
Gilles Deleuze/ Felix Guattari – Was ist Philosophie, 2000
Angesichts des ungeheuren Soges, den das Digitale zurzeit auf alle Bilder, Texte und Zahlen ausübt habe ich mir die Frage gestellt, was eigentlich mit den Dingen oder ihren auf materiellen Trägern vorhandenen Abbildern passieren soll, wenn sie dann mal digitalisiert und somit gemütlich vom Sofa aus konsumierbar sind. Ich bin natürlich nicht der erste, der sich die Frage gestellt hat. Im künstlerischen Bereich kann ich mich an Philipp Goldbach erinnern, der die digitalisierten und ausrangierten Dias aus Museen kistenweise aufgekauft und in Kunst verwandelt hat.
Theoretisch scheint das auch schon im Simulationsbegriff auf, den Beaudrilliard aufbauend auf Roland Barthes und Jacques Derrida in den 70er Jahren entwickelt hat. Ein Simulacrum tut, vereinfacht gesagt, so, als wäre es etwas Echtes oder das Abbild von etwas Echtem, aber es ist eben nur das Abbild eines Abbildes und hat damit den direkten Bezug (die Referenz) zur konkreten Lebenswelt verloren. Man könnte dagegenhalten, dass heute die Lebensverhältnisse zum größten Teil aus simulierter Realität bestehen. Und das ist auch so. Gaming, „Augmented Reality“ oder Simulationen von Prozessen, aber auch z.B. ein einfacher Instagram Post in dem David Campany, der etwas über ein Bild in einem Buch schreibt, in dem Bilder abgedruckt sind, die z.B. Jeff Wall in den 60er Jahren gemacht hat von Dingen oder Ereignissen, von denen wir uns zwar eine Vorstellung machen können, bei denen es uns aber nicht mehr vergönnt ist einen sinnlichen Eindruck davon zu bekommen. Aber das ist ja genau das Phänomen, das die Herren Strukturalisten und Poststrukturalisten schon damals versucht haben in den Blick zu bekommen.
Es ist nicht leicht, zu verstehen, was uns da verloren geht. Das belichtete Bild mit seiner mehr oder weniger glatten Oberfläche in der Hand oder das kleine Plastikrähmchen der Dias zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Photoalbum in den Händen? Oder das Gefühl mit dem, auf einem materiellen Träger gebannten, Abbild doch auch irgendwie eine Verbindung zum abgebildeten Objekt/Event in der Hand zu halten?
Um zu verdeutlichen, dass die Digitalisierung als Erzeugung von Simulacren die zweite Stufe in einem Prozess des Wirklichkeitsverlustes ist gehen wir ein wenig in die Zeit zurück in der Zeit nach der Empfindung der Photographie. Geraldine A. Johnson schreibt in ihrem Artikel „The Days before Railways and Photographs” über die den Kunsthistoriker und Sammler Bernhard Berenson (1856 bis 1959), der extra nach Italien gezogen ist um den Objekten seines Forschungsinteresses, den Altertümern aus der Renaissance möglichst nahe zu sein, der aber dann seine Studien nach und nach zunehmend auf Abbilder stützte und im Laufe der Zeit eine imposante Sammlung von mehreren tausenden Bildern von Kunstgegenständen aufgebaut hat. Man stand damals eben vor der Alternative entweder zu den Dingen hinzureisen oder sie in Form von Fotos dort zu genießen bzw. zu studieren, wo man eben war.
Ein weiteres Beispiel in diesem Artikel ist der bekannte Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892-1968), der für seine in den frühen zwanziger Jahren erschienenen Veröffentlichung zu den Zeichnungen Michelangelos auf in Büchern veröffentlichte Photographien angewiesen war, weil er aufgrund des Ersten Weltkrieges nicht in der Lage war zu den Kunstwerken selbst zu reisen. Die ist nur als kleiner Rückblick darauf gedacht, dass die Dinge in der Welt durch Photographie auch für diejenigen, die nicht vor Ort waren, zugänglich gemacht werden konnten.
Dankmar Schultz-Henke (1857-1913), ein Autor aus der Frühzeit der Photographie ging 1905 sogar so weit in seinem Buch „Anleitung zur fotografischen Retusche und zum Übermalen von Fotografien“ zu behaupten die Photographien würden die physischen Objekte nicht nur ersetzen, sondern auch eine eigenständige ästhetische und funktionale Realität schaffen. Als Retuscheur ging er sogar davon aus, dass die Bilder von unschönen Fehlern der Menschen und Dinge befreit werden könnten und damit das Abbild sogar noch besser sei als das Objekt selber. Er stand damals zwar einigermaßen allein mit seiner These, dass man die Dinge, wenn man sie erstmal gut photographiert hat, wegwerfen kann, zeigt aber wie die Bilder die Fähigkeit besaßen, Orte und Objekte unseren Sinnen nahezubringen und damit die Notwendigkeit zu diesen hinzureisen zu ersetzen.
Ich möchte nicht den dokumentarischen Wert der Photographie und eben auch der Digitalisierung von analogen Photographien infrage stellen, vor allem nicht in der Hinsicht, dass damit auch Objekte und Orte erhalten werden können, die dem Verfall oder der Zerstörung preisgegeben waren, wie zum Beispiel an den großen Buddhastatuen von Bamiyan oder den antiken Städten in Syrien gezeigt werden kann.
Aber es bleibt die Tatsache, dass wir uns immer tiefer in eine Simulation dessen hineinbegeben, was ursprünglich eine sinnlich erlebbare, aber eben auch mühsam zu bereisende Welt gewesen ist und zunehmend eine, bequem von Sofa aus konsumierbare, Scheinwelt sein wird
“We don’t lack communication, on the contrary, we have too much of it. We lack creative power. We lack resistance to the present”
Gilles Deleuze/ Felix Guattari – What is philosophy, 2000
In view of the tremendous pull that the digital currently exerts on all images, texts and figures, I have asked myself what should actually happen to things or their images on material carriers once they have been digitized and can therefore be consumed from the comfort of your sofa. Of course, I’m not the first person to have asked myself this question. In the artistic field, I remember Philipp Goldbach, who bought up boxes of digitized and discarded slides from museums and turned them into art.
Theoretically, this also appears in the concept of simulation, which Beaudrilliard developed in the 1970s based on Roland Barthes and Jacques Derrida. Put simply, a simulacrum acts as if it were something real or the image of something real, but it is only the image of an image and has thus lost its direct connection (reference) to the concrete world of life. One could argue that living conditions today consist largely of simulated reality. And that is the case. Gaming, augmented reality or simulations of processes, but also, for example, a simple Instagram post in which David Campany writes something about a picture in a book in which pictures are printed that Jeff Wall, for example, took in the 1960s of things or events that we can imagine but which we are no longer able to get a sensory impression of. But this is precisely the phenomenon that the structuralists and post-structuralists were already trying to get to grips with back then.
It is not easy to understand what we are losing. The exposed image with its more or less smooth surface in the hand or the small plastic frame of the slides between thumb and forefinger. The photo album in your hands? Or the feeling of somehow holding a connection to the depicted object/event in your hand with the image captured on a material carrier?
To make it clear that digitization as the creation of simulacra is the second stage in a process of loss of reality, let us go back in time a little to the time after the sensation of photography. In her article “The Days before Railways and Photographs”, Geraldine A. Johnson writes about the art historian and collector Bernhard Berenson (1856 to 1959), who moved to Italy specifically to be as close as possible to the objects of his research interest, the antiquities from the Renaissance, but who then gradually based his studies more and more on images and over time built up an impressive collection of several thousand images of art objects. At that time, people were faced with the alternative of either travelling to the objects or enjoying or studying them in the form of photographs wherever they happened to be.
Another example in this article is the well-known art historian Erwin Panofsky (1892-1968), who had to rely on photographs published in books for his publication on Michelangelo’s drawings in the early 1920s because he was unable to travel to the works of art themselves due to the First World War. This is only intended as a small review of the fact that things in the world could also be made accessible to those who were not there through photography.
Dankmar Schultz-Henke (1857-1913), an author from the early days of photography, even went so far as to claim in his 1905 book “Anleitung zur fotografischen Retusche und zum Übermalen von Fotografien” that photographs not only replaced physical objects, but also created an independent aesthetic and functional reality. As a retoucher, he even assumed that the images could be freed from unsightly flaws in people and things, making the image even better than the object itself. Although he was somewhat alone at the time with his theory that things could be thrown away once they had been photographed well, he shows how pictures had the ability to bring places and objects closer to our senses and thus replace the need to travel to them.
I don’t want to question the documentary value of photography and the digitization of analogue photographs, especially not in the sense that it can also preserve objects and places that have been left to decay or destruction, as can be seen in the large Buddha statues of Bamiyan or the ancient cities in Syria, for example.
But the fact remains that we are moving deeper and deeper into a simulation of what was originally a world that could be experienced by the senses, but was also difficult to travel through, and will increasingly become an illusory world that can be consumed from the comfort of our sofas
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Deine Schlussfolgerung der simulierten Scheinwelt kann ich nur unterstreichen.
Der hier kam per Brieftaube rein. Von meinem alten Studienfreund Stefan:
Das eine ist die Welt der Gegenstände, uns nicht nur durch die Sinne (Wahrnehmen von Gleichartigem), sondern vor allem durch unsere (propositionale) Sprache zugänglich. Das andere ist die Darstellung dieser Welt (der Gegenstände), die wir sprachlich, aber auch mittels Bildern zu leisten in der Lage sind. Wobei im Fall des Fotografierens zum Darstellen noch das „Ablichten“ der optischen Ansicht dieser Welt der Gegenstände (à la Spiegelbild im Wasser) hinzukommt.
Zweifellos kann man durch bildliche Darstellung (insbesondere durch Fotos) demjenigen (derjenigen) zu einer (freilich ausschnittshaften) Ansicht von Gegenständen der realen Welt verhelfen, der (die) sie nicht direkt in Augenschein nehmen kann. Und auch die, nennen wir´s, dokumentarische Qualität von Bildern/Fotos hinsichtlich irgendwelcher Gegenstände, die es nicht mehr gibt, ist nicht zu unterschätzen.
Gegenstände der realen Welt und ihre Darstellung sind zweierlei. Aber ob man nun eine analoge fotografische Darstellung zur Betrachtung in der Hand hält oder sich ihre digitalisierte Variante auf dem Bildschirm anschaut, macht, so möchte ich meinen, vielleicht bezüglich der Darstellungsqualität einen gewissen Unterschied, nicht aber hinsichtlich eines Verhältnisses zwischen Darstellung und dargestellten Gegenständen. Die Darstellung (oder auch die Darstellung einer Darstellung?) ist das eine, die Gegenstände der realen Welt sind das andere.
Es ist wie mit dem Erdbeer-Joghurt: Wird man mit Erdbeeraromen aufgezogen, schmecken einem keine echten Erdbeeren.
Persönlich bin ich immer wieder darüber überrascht, wie anderes Bilder, die man meint gut zu kennen, wirken, wenn man dem Original gegenübersteht. Allein schon die Bildformate können einen Eindruck völlig verändern.
Aber es stimmt: Wir sind auf dem besten Weg dahin, dass die Imitation oder das Fake wirklicher als die Wiklichkeit ist.
Womit wirbt z. B. die Exire Software, die “Fotos auf Bildkomposition, Emotion, Technik und Wirkung analysiert und bewertet – neutral und objektiv”? Man bekommt “im Handumdrehen” eine KI-Ästhetikbewertung seiner (KI)-Bilder. Letztlich gleicht sich so alles immer mehr an, auch die Urteile über Kunst. Wir müssen dann nur noch die Wirklichkeit und letztlich uns selbst der Scheinwelt anpassen.
Ja mich hat’s auch geschüttelt, als mir das Programm, dass ich als Sortierhife gedacht hatte, anbot mir meine Bilder zu beurteilen. Aber wer weiß, vielleicht gewöhn’ ich mich auch noch daran.