Ich meine, ich hätte im Zusammenhang mit Baudrillard schon mal über das Verschwinden geschrieben aber es ist eben ein Thema, das nicht nur im Rahmen des Photographischen relevant ist. Ich habe (was ich sonst nie mache) ein Podcast aus Alexandra Tobors Reihe “In trockenen Büchern” noch mal zu hören angefangen. Sie bezieht sich darin auf ein Buch von Thomas Bauer über „Die Vereindeutigung der Welt“, in dem es über das Verschwinden der Vielfalt geht. Die Beispiele sind überwältigend. Artensterben, Verschwinden der Dialekte und kulturellen Eigenheiten, die McDonaldisierung der Essgewohnheiten und so weiter. Sehr schön finde ich, wie Alexandra herausarbeitet, dass wir selbst für das Verschwinden der Vielfalt verantwortlich sind, weil wir Differenz und Ambiguität nicht mehr so gut aushalten können. Der Kapitalismus macht sich das zunutze, indem er uns Ersatzvielfalt im Warenregal anbietet. Dass diese Art von Vielfalt nicht gerade eben glücklich macht oder um es versöhnlicher auszudrücken, dass das Glück des Konsums immer nur sehr kurzlebig ist und wir dadurch in Abhängigkeitsspiralen geraten, kann wohl kaum jemand leugnen.
Wie das Verschwinden damit zusammenhängt, dass die verschwundenen Qualitäten plötzlich verstärkt in Diskursen auftauchen und im Wertekanon gehiped werden oder umgekehrt formuliert, dass man fast schon davon ausgehen kann, dass wenn über ein Thema ausufernd gesprochen wird, es ein Zeichen dafür ist, dass damit etwas nicht mehr ganz in Ordnung ist, zeigt Bjung Chul Han seinen schmalen Bändchen “Die Krise der Narration”.
Ist euch euch schon aufgefallen, dass der Markt voll ist von Angeboten narrative Strategien für den eigenen Social-Media-Auftritt oder die eigene Photoproduktion zu erlernen? Überhaupt ist viel von Narrativen die Rede. In Wirklichkeit aber erleben wir eine Atomisierung der großen verbindenden Erzählungen. Dass die großen Kirchen ausgedient haben, braucht man niemandem mehr zu erzählen. Aber auch die handlungsleitenden Philosophien tragen nicht mehr. Was finden wir im Netz schon noch über Marxismus oder Existentialismus? Nur noch kümmerliche Bruchstücke. Aber auch der Humanismus wird demontiert und die Fortschrittserzählung klingt auch schon ziemlich hohl. Das wäre ja nicht allzu schlimm, würde man sehen können, dass neue großartige Utopien oder Welterklärungserzählung stattdessen auftauchen und die Alten zu ersetzen, aber auch hier nur Flickwerk. Und was wird uns stattdessen angeboten? Storytelling. Bjung Chul Han sagt:
„Mittels Storytelling eignet sich der Kapitalismus die Erzählung an. Er unterwirft sie dem Konsum. Das Storytelling produziert Erzählungen in Konsumform. Mit seiner Hilfe werden Produkte mit Emotionen aufgeladen. Sie versprechen besondere Erlebnisse. So kaufen, verkaufen und Konsumieren wir Narrative und Emotionen. Storys sell. Storytelling ist storyselling.“
Das ist das Verschwinden des Erzählbaren im Verkaufbaren, aber es gibt noch eine andere Bewegung des Verschwindens, die sich mit dieser hervorragend verknüpft. Es ist das Verschwinden des Begreifbaren im Datenstrom. Alles wird digitalisiert und verschwindet damit aus der realen Welt. Keine anfassbaren Kassetten oder CDs mehr, auf denen Musik verortet ist, keine Photokiste mit Erinnerungsbildern, kein Bedarf mehr ins Museum zu gehen, weil man alles auch digital genießen kann. Eine Verarmung der Sinnenwelt.
I think I have already written about disappearance in connection with Baudrillard, but it is a topic that is not only relevant in the context of photography. I have started listening to a podcast from Alexandra Tobor’s series “In trockenen Büchern” again (something I almost never do). In it, she refers to a book by Thomas Bauer on “Die Vereindeutigung der Welt”, which is about the disappearance of diversity. The examples are overwhelming. Species extinction, the disappearance of dialects and cultural characteristics, the McDonaldisation of eating habits and so on. I really like the way Alexandra emphasises that we ourselves are responsible for the disappearance of diversity because we can no longer tolerate difference and ambiguity so well. Capitalism capitalises on this by offering us substitute diversity on the shelves. Hardly anyone can deny that this kind of diversity does not exactly make us happy or, to put it more conciliatory, that the happiness of consumption is always very short-lived and that we fall into a spiral of dependency as a result.
Bjung Chul Han shows in his slim volume “The Crisis of Narration” how the disappearance is linked to the fact that the qualities that have disappeared suddenly appear in intensified discourses and are chipped into the canon of values or, to put it the other way round, that one can almost assume that when a topic is talked about excessively, it is a sign that something is no longer quite right with it.
Have you also noticed that the market is full of offers to learn narrative strategies for your own social media presence or your own photo production? There is a lot of talk about narratives in general. In reality, however, we are experiencing an atomisation of the great connecting narratives. We no longer need to tell anyone that the big churches have had their day. But the philosophies that guide our actions are no longer relevant either. What can we still find on the internet about Marxism or Existentialism? Only meagre fragments. But humanism is also being dismantled and the narrative of progress already sounds pretty hollow. That wouldn’t be too bad if we could see that new grandiose utopias or narratives to explain the world were emerging instead and replacing the old ones, but here too it’s just patchwork. And what are we being offered instead? Storytelling. Byung-Chul Han says:
“By means of storytelling, capitalism appropriates narrative. It subjects it to consumption. Storytelling produces narratives in consumer form. With its help, products are charged with emotion. They promise special experiences. This is how we buy, sell and consume narratives and emotions. Stories sell. Storytelling is storyselling.”
This is the disappearance of the narratable in the saleable, but there is another movement of disappearance that is excellently linked to this. It is the disappearance of the tangible in the data stream. Everything is digitised and thus disappears from the real world. No more tangible cassettes or CDs with music on them, no more photo boxes with souvenir pictures, no more need to go to museums because you can enjoy everything digitally. An impoverishment of the sensory world.
Was bedeutet das aber für die Photographie? Auch hier sind ganze Genres damit beschäftigt gegen das Verschwinden anzukämpfen indem Verschwindendes photographiert und in den digitalen Einheitsbrei integriert wird. Ganz populär sind immer noch “Lost Places” oder „Decay“ aber auch die deutlich besser reflektierten „new topographics“ zeigen nur die Spuren menschlichen Gestaltungswillens und wenn Sie ein paar Jahre auf dem Buckel haben, nicht mehr vorhandene menschengemachte Landschaften. Ein solches Thema, dem ich gerade auf Instagram gerne Folge: Spuren von Typographien vergangener Zeiten in den Reklamen und Laden-Beschriftungen großer Städte (z.B. #fontwien) Eine schöne Sammlung von Schriften, die wir bald nicht mehr sehen werden.
Ganz provokativ könnte ich sogar sagen, dass von der inzwischen unübersehbaren Schar von Naturfotografen nichts anderes gemacht wird, als die verschiedenen Arten von Tieren, deren Habitate und Verhaltensweisen für eine Zeit aufzuzeichnen, in der es diese Tiere nicht mehr geben wird. Dann können wir uns auf YouTube eine aus Originalaufnahmen rekonstruierte Nachtigall ansehen und anhören. Eine verstörende Dystopie.
Zum Schluss meiner Betrachtung noch ein kleines Trostpflaster. In der künstlerischen Photographie hat schon längst eine Gegenbewegung eingesetzt. Da kommt zunehmend der Materialität der Exponate eine entscheidende Bedeutung zu. Der Beliebigkeit der digitalen Präsentation werden entweder im Prozess oder beim Exponat Techniken entgegengesetzt die eine sinnliche Qualität zu transportieren versuchen. Um der Beliebigkeit und der Atomisierung durch Einzelbilder zu entkommen, wird mit Serien und in Projekten gedacht und gearbeitet und es wird Wert darauf gelegt die Exponate in einen Kontext zu stellen und Sie somit wieder zum Sprechen, zum Erzählen zu bringen.
But what does this mean for photography? Here too, entire genres are busy fighting against disappearance by photographing the disappearing and integrating it into the digital mishmash. Lost places” or “decay” are still very popular, but even the more selfreflecting “new topographics” show but the traces of human design and, if they have been around for a few years, man-made landscapes that no longer exist. One such topic that I like to follow on Instagram: traces of typographies from bygone times in the adverts and shop lettering of large cities (e.g. #fontwien) A beautiful collection of fonts that we will soon no longer see.
Quite provocatively, I could even say that the now immense number of nature photographers are doing nothing other than recording the different species of animals, their habitats and behaviours for a time when these animals will no longer exist. Then we can watch and listen to a nightingale reconstructed from original recordings on YouTube. A disturbing dystopia.
A small consolation at the end of my reflection. A counter-movement has long since begun in artistic photography. The materiality of the exhibits is becoming increasingly important. The arbitrariness of digital presentation is countered either in the process or in the exhibit by techniques that attempt to convey a sensual quality. In order to escape the arbitrariness and atomisation of individual images, we think and work with series and in projects, and we attach importance to placing the exhibits in a context and thus making them speak and tell a story again.
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Ich habe einem Einwand von Diet_sch auf flickr folgend meinen Satz zu den `new topographics´ abgeändert um dem Eindruck entgegenzuwirken, ich würde diese auf eine Stufe mit der Jagd nach `lost places´ stellen. Zudem war mir eine Platonismus unterlaufen, den ich ebenfalls zu begradigen versucht habe. Ich freue mich über solche Rückmeldungen, da ich zwar durchaus über den Artikeln brüte, aber keineswegs warte, bis sie perfekt sind.
Lieber Rolf, nochmal ein Kommentar. Kurz nach meinem letzten nämlich habe ich eine Stelle in Goethes “Wilhelm Meister” gelesen, durch den ich mich gerade, im übertragenen Sinn, durchgrabe. Dieses Werk ist sehr langatmig, aber Goethes Menschen- und Lebenserfahrung und seine Fähigkeit, sie zum Ausdruck zu bringen, finde ich immer wieder packend. Hier heißt es in den “Wanderjahren”, Erstes Buch, Zwölftes Kapitel: “… als Wilhelm, gegen sonstige Gewohnheiten, seine Blicke beobachtend im Zimmer unherschweifen ließ, sagte der gute Alte: “Meine Umgebung erregt Ihre Aufmerksamkeit. Sie sehen hier, wie lange etwas dauern kann, und man muss doch auch dergleichen sehen, zum Gegengewicht dessen, was in der Welt so schnell wechselt und sich verändert. Dieser Teekessel zum Beispiel diente schon meinen Eltern und war Zeuge unserer abendlichen Familienversammlungen; dieser kupferne Kaminschirm schützt mich noch immer vor dem Feuer, das diese alte mächtige Zange anschürt; und so geht es durch alles durch. Anteil und Tätigkeit konnte ich daher auf gar viel andere Gegenstände wenden, weil ich mich mit der Veränderung dieser äußern Bedürfnisse, die so vieler Menschen Zeit und Kräfte wegnimmt, nicht weiter beschäftigte. Eine liebevolle Aufmerksamkeit auf das, was der Mensch besitzt, macht ihn reich, indem er sich einen Schatz der Erinnerung an gleichgültigen Dingen dadurch anhäuft.” …” Das finde ich schön in Worte gebracht; die Aussage sehe ich nicht auf Dinge beschränkt, sie gilt auch für flüchtige Phänomene wie Wahrnehmungen, Tätigkeiten und Erlebnisse.
Liebe Grüße!
Mir ist schon auch bewußt, dass die Wahrnehmung des Verschwindens eine perspektivische Verzerrung des alternden Geistes sein könnte, der sich nicht vom Gewohnten trennen mag. Und obwohl ich ja gar nicht so sehr an den verschwindenden Erscheinungen hänge, stimmt mich deren Verschwinden doch etwas melancholisch.
Ein wichtiges Thema. Das Buch von Han kenne ich noch nicht und werde es mir besorgen. Narrative brauchen Zeit und Aufmerksamkeit, um Gelegenheiten zu finden und zu erkennen und sind der Aufforderung zum Konsum entgegengesetzt. Der Wert liegt in ihnen selbst. Wie der Gesang der Nachtigall, die ich, derzeit in Berlin, um Mitternacht auf der Dachterrasse im benachbarten Bürgerpark von Pankow zum ersten Mal im Leben bewusst singen hörte.
Nicht zum ersten Mal, aber sehr intensiv habe ich die Nachtigall gehört, als ich kürzlich bei meiner Tochter zu Besuch war und wir gegen Mitternacht in den Garten raus sind, um Nordlichter zu sehen. Licht war nicht viel, aber Gesang. Und mir ist zum ersten Mal im Leben aufgegangen, dass die Nachtigall wohl so heißt, weil sie nachts singt…