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Dieses Buch hat mich angesprochen /This book talked to me

Ich wüsste gerne, warum ich bei den vielen medialen Angeboten manchmal sofort anspringen, während ich meist eher ein Gefühl von Übersättigung oder gar Überforderung empfinde, wenn ich dem dauernden “schau mich bitte an” ausgesetzt bin. So habe ich, kaum dass ich die kurze Rezension des Buches in den PhotoNews gelesen hatte, auch schon das Buch bestellt. Es heißt “Das Foto schaute mich an” und ist von Katja Petrowskaja geschrieben. Sie hatte 2014 ihr literarisches Debüt und schreibt ansonsten für deutsche und russischsprachige Medien.

Schnell merkte ich, dass das kein Buch zum Durchlesen ist. Ich lese jetzt schon die dritte Woche darin und bin immer noch nicht ganz fertig. Katja Petrowskaja schreibt hier über Bilder (die im Buch mit abgedruckt sind). Ich würde die Textminiaturen am ehesten als Bildbetrachtung bezeichnen, auch wenn sie erzählerische Elemente und natürlich Elemente von Bildbeschreibungen enthalten. Das Besondere ist, dass die Autorin die Bilder nicht interpretiert, sondern daraufhin abtastet, was sie mit den Bildern verbindet, was diese in ihr auslösen, welche Erinnerungen sich zu den Bildern gesellen und welche Assoziationen sie wecken.

Der Titel des Buches leitet sich von dem “Bergmann vom Donbass” genannten Bild ab, aus dem ein paar blaue Augen aus einem schwarzen Gesicht, durch von einer in seinem Mund baumelnden Zigarette erzeugten Rauch hindurch, den Betrachter anschauen. So gibt es in jedem Bild, über das die Autorin schreibt, etwas, was sie anspringt, etwas, das sie zwingt, sich das Bild anzuschauen, sich damit zu beschäftigen. Wenn jemand noch nicht begriffen hat, was das `punctum´ ist, von dem Roland Barthes in seiner `hellen Kammer´ spricht, dann lese er dieses Buch.

Aber warum spricht mich dieses Buch an? Ich sehe darin etwas verwirklicht, was ich in diesem Blog nun seit drei Jahren versuche und immer nur ansatzweise hinbekomme. Das, worüber ich schreibe, persönlich zu nehmen. Nicht zu urteilen, sondern zu erleben, zu empfinden, zu assoziieren, zu fabulieren, wenn es sein muss.

Okay, natürlich soll auch etwas für den Leser dabei rauspringen. Nein, keine rein narzisstische Selbstbespiegelung, aber eben Mut zu Subjektivität in einer Welt, die versucht alles zu objektivieren, zählbar und messbar zu machen, zu evaluieren und daraus möglichst logische Schlüssel zu ziehen. Nein, kein sentimental romantisches Geschwurbel, aber eben ernst nehmen und aussprechen dessen, was mich betrifft, was mich betroffen macht.

In meiner revolutionären Jugend hatte ich mir einen Spruch zu eigen gemacht, von dem ich nicht mehr rekonstruieren kann, wo ich ihn aufgeschnappt habe. Er heißt “Drück aus, was dich eindrückt”. Seltsamerweise hat es fast 50 Jahre gedauert, bis ich angefangen habe es, wenn auch nur ansatzweise, zu versuchen.

Abschließend möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass sich durch das ganze Buch eine Spur der Trauer durchzieht. Einer Traurigkeit darüber, dass die Barbarei einmal wieder wagt, ihr hässliches Gesicht zu zeigen. Aber lassen wir die Autorin das in ihren eigenen Worten sagen:

Als im März 2014 mein Buch `Vielleicht Esther´ über den Zweiten Weltkrieg erschien, okkupierte Russland gerade die Krim, den Sehnsuchtsort meiner Kindheit. Ich war fassungslos, taub, wütend. Mein ganzer Körper wehrte sich dagegen, zu glauben, dass Russland, das zusammen mit der Ukraine den Faschismus besiegt hatte, selbst zum Aggressor geworden war. Ich konnte nicht weiterarbeiten wie zuvor und suchte nach einer neuen Form, nach einer Haltung, aus der heraus ich wieder würde schreiben können, auch über die Dinge, die ich liebe. Und es waren die Fotografien, die das Unausgesprochene ersetzten, die das Fragmentarische boten, Möglichkeiten der Stille und der Schönheit schufen. In diesen Wochen führt Russland einen brutalen Krieg gegen die Ukraine. Es ist ein Angriff auf alles, was wir sinnvoll finden. Er erscheint uns absurd und unbegreiflich und zugleich hat er eine fatale Logik, denn es gab die russischen Verbrechen in Tschetschenien, den Krieg in Georgien, den Krieg in Syrien. Krieg tötet, negiert Sinn, Normalität und Vielfalt, alles, was wir lieben. Krieg möchte unsere leisen Worte löschen. Ich möchte diese Miniaturen, diese kleinen Fragmente, dem Krieg entgegenstellen, auf der Suche nach Stimme.

I would like to know why I sometimes immediately jump at something in the many media offers, while I usually rather feel a sense of oversaturation or even overwhelm when I am exposed to the constant “please look at me”. So, as soon as I read the short review of the book in PhotoNews, I ordered the book. It’s called “The Photograph Looked Back at Me” and is written by Katya Petrovskaja. She made her literary debut in 2014 and otherwise writes for German and Russian-language media.

I quickly realized that this is not a read-through book. I’ve been reading it for the third week now, and I’m still not quite finished. Katya Petrovskaja writes here about pictures (which are printed in the book). I would most likely call the text miniatures observations, even though they contain narrative elements and, of course, elements of picture descriptions. What makes them special is that the author does not interpret the images, but rather probes them to see what she associates with them, what they trigger in her, what memories join the images, and what associations they awaken.

The title of the book is derived from the picture called “Miner of the Donbass”, from which a pair of blue eyes from a black face, through smoke produced by a cigarette dangling in his mouth, look at the viewer. Thus, in every picture the author writes about, there is something that jumps out at her, something that forces her to look at it, to engage with it. If someone has not yet understood what the ‘punctum’ is that Roland Barthes talks about in his ‘bright chamber’, then read this book.

But why does this book appeal to me? I see in it something realized that I have been trying to do in this blog for three years now and only ever manage to do rudimentarily. To take what I write about personally. Not to judge, but to experience, to feel, to associate, to fabulate, if it must be.

Okay, of course there should be something in it for the reader too. No, not a purely narcissistic self-reflection, but the courage to be subjective in a world that tries to objectify everything, to make it countable and measurable, to evaluate it and to draw logical keys from it. No, no sentimental romantic gobbledygook, but just taking seriously and expressing what concerns me, what affects me.

In my revolutionary youth I had adopted a saying, of which I can no longer reconstruct where I picked it up. It’s called “Express what weighs you down.” Strangely enough, it took me almost 50 years to start trying it, even if only on a one-off basis.

Finally, I want to mention that there is a trace of sadness throughout the book. A sadness about the fact, that barbarism once again dares to show its ugly face. But let the author say it in her own words:

When my book `Maybe Esther´ about World War II was published in March 2014, Russia had just occupied Crimea, the place of longing of my childhood, I was stunned, numb, angry. My whole body resisted believing that Russia, which together with Ukraine had defeated fascism, had itself become the aggressor. I could not continue to work as before, and I was looking for a new form, for an attitude from which I would be able to write again, even about the things I love. And it was the photographs that replaced the unspoken, that offered the fragmentary, created possibilities of silence and beauty. In these weeks, Russia is waging a brutal war against Ukraine. It is an attack on everything we find meaningful. It seems absurd and incomprehensible to us, and at the same time it has a fatal logic, because there were the Russian crimes in Chechnya, the war in Georgia, the war in Syria. War kills, negates meaning, normality and diversity, everything we love. War wants to erase our silent words. I want to put these miniatures, these small fragments, against war, in search of voice.

Translated with the help of www.DeepL.com/Translator

12 Comments

  1. Stefan Brendle

    Noch´n feierabendlicher Nachtrag: Sind mit „Empfindungen“ nicht nur körperliche Empfindungen wie Schmerz, Hunger oder Durst, sondern vor allem Affekte wie Ärger, Freude, Zorn, Entzücken oder Empörung gemeint, dann sind auch diese weder diffus noch schwer zu fassen und vor allem sind sie nicht strikt von (kritischer) Rationalität getrennt. Zum einen kommen hier inhaltlich Sachverhalte ins Spiel: Ärgert man sich zum Beispiel, dann ärgert man sich über etwas, einen Sachverhalt, etwa darüber, dass ein anderer einfach nicht das macht, was man von ihm erwartet. Und bringt man dann wie auch immer seinen Ärger darüber zum Ausdruck, dass ein anderer einfach nicht das macht, was man von ihm erwartet, dann legt man sich zudem auf eine Bewertung dieses Sachverhalts – und zwar hier eine negative – fest. Klar, und so wenig sich die Wahrheit irgendwelcher Sachverhalte einfach so von selbst versteht, so strittig sind auch Bewertungen; und so sehr sind Gründe gefragt, für und wider – und der passiven Affektivität durch die aktive Überlegung (oder auch Diskussion) auf die Sprünge zu helfen.

    PS: Jeder kritisch-rationale Text, der wirklich was taugt, hat eine ihn befeuernde affektive Grundlage!

  2. Stefan Brendle

    Na, wenn übers Empfindungs-Äußern der kritische Verstand nicht untern Tisch fällt, soll´s mir recht sein.

  3. Stefan Brendle

    Okay, ein Betrachter kann sich mit Fotos auseinandersetzen, die ihn zu zwingen scheinen, sie anzuschauen, und sich zum Beispiel fragen, was sich für ihn mit dem aus seiner Sicht und auf jeweils spezifische Weise Dargestellten verbindet, was es in ihm auslöst und welche Erinnerungen und Assoziationen es weckt. Aber wer die kapitalistische Objektivität (Rationalität) mit Objektivität (Rationalität) überhaupt verwechselt und einem „Mut zur Subjektivität“ unter Verzicht aufs „Urteilen“ das Wort redet, der produziert, wenn er´s denn tut, schlicht und einfach Kitsch (von dem ja auch der zitierte Text der Autorin alles andere als frei ist).

    • Rolf Noe

      Lieber Stefan, abgesehen davon, dass wir im Kapitalismus leben sind wir auch empfindende Menschen und haben ein Bedürfnis unsere Empfindungen zum Ausdruck zu bringen, auch wenn Sie nicht revolutionär sind (rational sind Sie anyway nicht). Ich bin weit davon entfernt, für einen Verzicht auf vernünftige Urteile zu plädieren. Aber genauso wenig werde ich mich verleiten lassen, den Verzicht auf Empfindungen zu predigen, nur weil sie diffus und schwer zu fassen sind und nicht auf direktem Wege zum emanzipatorischen Tun führen.

  4. Stefan Holland-Cunz

    Lieber Rolf, vielen dank für den wertvollen Tipp der Fotos, die einen anschauen von Katja Petrowskaja. Der Hinweis in den Kommentaren auf den “Blinden Fleck” von Teju Cole ist begründet, man kann noch Wim Wenders “Einmal” dazu nehmen, dann hat man eine herrlich inspirierende Trilogie zur intuitiven Bildbeschreibung oder besser zu einem “Schreiben zum Bild”. Nochmals vielen Dank und in Erwartung auf weitere Empfehlungen aus deinen Tasten!

    • Rolf Noe

      Hallo Stefan, vielen Dank für deine wertvolle Ergänzung. Ich habe mir das Buch ebenfalls antiquarisch erstanden und jetzt wartet es geduldig darauf, dass der richtige Zeitpunkt kommt. Dann wird es gelesen und wenn es anregend ist auch besprochen. Bis dahin.

  5. Bernhard Müller

    Hallo Rolf, ist das dein Studierzimmer? Urgemütliche Mischung aus Jakob-Fetzer-Buchladen (Reutlingen) und Wiener Wohnen à la Freud.

    • Rolf Noe

      Hihi, nicht, dass ich so ein Studierzimmer nicht gemütlich fände, aber bei mir geht es ein wenig weniger gestrig und durchaus auch etwas prosaischer zu. And how are you?

    • Rolf Noe

      Danke für den Tipp. Wenn Siri Hustvedt ein Vorwort dazu geschrieben hat, dann kann es ja gar nicht verkehrt sein. Habs mir gleich antiquarisch bestellt.

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