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Gemeinsam mehr sehen / See More Together

Ich will mal beschreiben, was passiert, wenn drei alte Männer aus dem lokalen Photoclub beschließen, zusammen eine Ausstellung anzuschauen. Wir, das sind Michael, Harald und ich waren ja schon mal gemeinsam unterwegs  und aufgrund der guten Erfahrung, die wir in dieser Konstellation gemacht haben, haben wir beschlossen noch mal loszuziehen. Diesmal sollte es die `Gällery´ sein. Wir wussten, dass es um dokumentarische Photographie gehen sollte und waren gespannt. Bald merkte ich, dass es eine Art Retrospektive zum 30jährigen Bestehen des `Förderpreises der Wüstenrot-Stiftung´, war, die dort präsentiert wurde. Diesen hatte ich bei einer Ausstellung der Preisträger von 2020 in Kornwestheim schon kennengelernt.

Inzwischen habe ich fast alle Ausstellungen in der `Gällery´ der Staatsgalerie Stuttgart  gesehen und muss sagen, dass das Konzept interessante, aber meist nicht Mainstream-taugliche Photographien und vor allem Photo-Serien zu zeigen aufgeht, zumindest für mich und das kann ich vorwegnehmen auch für meine beiden Mitstreiter.

I want to describe what happens when three old men from the local photography club decide to go to an exhibition together. We, that is Michael, Harald and I, have been out and about together before and because of the good experience we had in this constellation, we decided to go out again. This time it was to be the ‘Gällery’. We knew it was going to be about documentary photography and we were excited. I soon realized that it was a kind of retrospective for the 30th anniversary of the ‘Wüstenrot Foundation Award’, which was being presented there. I had already got to know it at an exhibition of the 2020 prizewinners in Kornwestheim.


In the meantime, I have seen almost all the exhibitions in the `Gällery’ of the Staatsgalerie Stuttgart and I have to say that the concept of showing interesting but mostly non-mainstream photographs and especially photo series works, at least for me and I can also anticipate that for my two colleagues.

Gleich im Eingangsbereich unter dem Motto ” Beziehungsnetze des Portraits” wird eine Serie von Portraits von Jugendlichen (Albrecht Tübke `Jugend´1998) gezeigt und anhand unserer Diskussion darüber wurde auch ein wenig deutlich, was in dieser Ausstellung noch hätte, besser gemacht werden können. Wir fragen uns z.B. wie viel Spontanes und wie viel Gestelltes diese Ganzkörperportraits enthalten. Auch wurde, für uns, aus dem Titel der Serie nicht klar, was der Anteil der Porträtierten und was der Anteil der des/r Photographen/in in an der Gestaltung des Bildes war. Zum Beispiel sieht es so aus, als ob die leicht verwaschenen Hintergründe auch Hinweise auf den Kontext dieser Jugendlichen geben sollen, aber es war nicht klar, ob sie ihn selbst gewählt oder ob die Photograph:innen sich den Hintergrund ausgesucht haben. Bei der Kleidung mutmaßten wir, dass diese mit ziemlicher Sicherheit von den Jugendlichen selbst gewählt war und durchaus deutlich Hinweise auf die entsprechenden Subkulturen transportieren sollte. Vielleicht hätte auch der (im Übrigen kostenlose – Danke!) Katalog Abschluss geben können, aber wer liest heutzutage noch Texte?

A series of portraits of young people (Albrecht Tübke `Youth´, 1998) is shown right in the entrance area under the motto “Relationship networks of the portrait” and our discussion about it also made it a little clear what could have been done better in this exhibition. We wondered, for example, how much spontaneous and how much posed these full-body portraits contain. It was also not clear to us from the title of the series what part the portrait subjects and what part the photographer played in creating the image. For example, it looks as if the slightly blurred backgrounds are also intended to give clues to the context of these young people, but it was not clear whether they chose it themselves or whether the photographers chose the background. As for the clothing, we suspected that it was almost certainly chosen by the young people themselves and was definitely intended to convey clear references to the relevant subcultures. Perhaps the (incidentally free – thank you!) catalog could have provided some closure, but who reads texts these days?

In die ebenfalls im Raum befindlichen Serie über die Berlusconi-Partei (Sara-Lena Maierhofer   `The Great´2014) haben wir uns nicht so sehr vertieft, aber hier wurde klar, dass die Präsentation dokumentarische Arbeiten den Rahmen der reinen Photographie immer mehr sprengt. Über ein Mikrofon wurde z.B. der Text abgespielt, den Berlusconi einem, im Koma liegenden Jugendlichen zugeschickt hatte, um ihn zu `erwecken´. Eine Dimension des Populismus, die zumindest mir die Gänsehaut auf den Rücken zaubert.

Die erste Arbeit im zweiten Raum zog uns besonders in den Bann, vor allem weil wir den Titel nicht mit den Bildern zusammenbringen konnten. Die Serie “Big Sexyland” von Tobias Zielony, 2006 zeigt Impressionen von einer Art Jugend-Treff, alles männliche Protagonisten in einem alten Kino, verträumte (bekiffte?) Blicke, kein Mädel irgendwo. Auch hier hätte uns der Katalog vielleicht weitergeholfen, aber wir haben nicht nachgeschlagen. So konnten wir nach Herzenslust rätseln.

Gleich daneben eine Serie, die uns auch gut beschäftigt hat. Die “neuen Familienportraits” von Verena Jaeckel, 2005/06, ganz klassische Familienaufstellungen mit Eltern und Kindern. Beim ersten Blick sind wir noch irritiert. Nach und nach dämmert es uns, dass es sich um Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern handelt. Klassische Familienporträt-Aufstellung mit einem oder zwei Eltern sitzend und den Kindern stehend fordern uns heraus, zu entscheiden, was wir noch als innerhalb der Norm wahrnehmen und was nicht.

We did not delve as deeply into the series on the Berlusconi party (Sara-Lena Maierhofer ‘The Great’ 2014), which was also in the room, but here it became clear that the presentation of documentary works is increasingly going beyond the scope of pure photography. For example, the text that Berlusconi had sent to a young man in a coma to “awaken” him was played over a microphone. A dimension of populism that at least gives me goose bumps.

The first work in the second room particularly captivated us, especially because we couldn’t match the title with the pictures. The series “Big Sexyland” by Tobias Zielony, 2006 shows impressions of a kind of youth get-together, all male protagonists in an old movie theater, dreamy (stoned?) looks, not a girl anywhere. Here, too, the catalogue might have helped us, but we didn’t look it up. So we could puzzle to our hearts’ content.

Right next to it was a series that also kept us busy. The “New Family Portraits” by Verena Jaeckel, 2005/06, classic family constellations with parents and children. At first glance, we are still confused. Gradually it dawns on us that these are families with same-sex parents. Classic family portrait constellations with one or two parents sitting and the children standing challenge us to decide what we still perceive as being within the norm and what is not.

Ein vergnügliches Verwirrspiel für die Augen stellt die Serie “Gesellschaft beginnt mit Drei” von Andrzej Steinbach dar. Hier müssen wir unsere Wahrnehmungen abstimmen, um klar zu sehen, dass die drei Protagonistinnen durch die wechselseitige Einnahme von drei verschiedenen Positionen quer durch die Serie, die pro Bild immer genau eineinhalb Protagonistinnen zeigt, konstant bleiben, dies aber durch Kostümaustausch geschickt zu verbergen versuchen.

Im dritten Raum unter dem Motto „Gesellschaft in Bewegung“ ist es mehr die Form der Präsentation, die uns beschäftigt. Bei der Serie “Sarah, Miguel und Jamal” von Malte Wandel, (seit 2015) ist es die Multimedialität (Ton, Großbild, Texte und Bilder auf Holzpodesten sowie ein “Social Media”–Screen) die uns beschäftigt. Man muss die verschiedenen Informationen aktiv abgleichen, um ein Bild zu bekommen, um was es eigentlich geht.

Bei Andrea Diefenbachs Serie „Land ohne Eltern“, 2007 über ostwestliche Arbeitsmigration seit den 1990er Jahren,  fragten wir uns, ob die chaotische Hängung die Aussage unterstützt oder sogar eher kontraproduktiv ist. Eine inhaltlich noch divergentere Serie im gleichen Raum (Maziar Moradi „Was wir sind“, 2010/11 wird durch eine enge, sehr kompakte Hängung zusammengehalten.

The series “Society begins with three” by Andrzej Steinbach is a pleasurable game of confusion for the eyes. Here we have to adjust our perceptions in order to see clearly that the three protagonists remain constant by alternately assuming three different positions throughout the series, which always shows exactly one and a half protagonists per picture, but cleverly try to conceal this by swapping costumes.
In the third room under the motto “Society in motion”, it is more the form of presentation that concerns us. In the series “Sarah, Miguel and Jamal” by Malte Wandel (since 2015), it is the multimedia (sound, large image, texts and pictures on wooden pedestals as well as a “social media” screen) that concerns us. You have to actively compare the different pieces of information to get a picture of what it is actually about.
In Andrea Diefenbach’s 2007 series “Land ohne Eltern”(country without parents), about East-West labour migration since the 1990s, we asked ourselves whether the chaotic hanging supported the message or was actually counterproductive. An even more divergent series in the same room (Maziar Moradi “Was wir sind”(what we are), 2010/11 is held together by a tight, very compact hanging.

Im letzten Raum unter dem Motto “politische Landschaften” finden wir dann eine erstaunliche Sammlung von Präsentationsformen, wobei man sich natürlich fragen kann, ob und warum das noch unter dokumentarische Photographie läuft.

Es sind Bild-Text-Tafeln (Arne Schmitt “Die neue Ungleichheit”, 2014), eine Bildschirmpräsentation auf einem großen Monitor mit Ton (Susanne Hefti “Kosovo – A Truly Non-Affirmative Research”, 2017) Plakate und ein Photobuch (Christian Kasners “Nova Evropa”, 2017-2019) eine analoge, schwarz-weiße Dia-Präsentation (Nikola Meitzner “in operation”, 2002/03) und eine Serie von Farbbildern (Kirill Golovchenko “Der ukrainischen Durchbruch”, 2008) all diese Arbeiten laden dazu ein, sich intensiver damit zu beschäftigen.

Harald und ich stehen eine ganze Weile vor dem Bildschirm, auf dem so ziemlich alle kosovarischen Tankstellen zu sehen sind, während die Autorin davon erzählt, was sie bei ihren Streifzügen durch den Kosovo, so alles erlebt hat. Das Konzept, den Blick durch die Präsentation der Tankstellen zu fesseln, während einem die unglaublichsten Geschichten in die Ohren geblasen werden, ist zumindest bei Harald mir  aufgegangen.

In the last room under the motto “political landscapes”, we find an astonishing collection of presentation forms, although one can of course ask whether and why this still falls under documentary photography.

There are image-text panels (Arne Schmitt “Die neue Ungleichheit”, 2014), a screen presentation on a large monitor with sound (Susanne Hefti “Kosovo – A Truly Non-Affirmative Research”, 2017) posters and a photo book (Christian Kasner’s “Nova Evropa”, 2017-2019), an analogue, black-and-white slide presentation (Nikola Meitzner “in operation”, 2002/03) and a series of color images (Kirill Golovchenko “The Ukrainian Breakthrough”, 2008) – all of these works invite us to take a closer look.

Harald and I stand for quite a while in front of the screen, on which pretty much all the Kosovo petrol stations can be seen, while the author talks about what she has experienced on her forays through Kosovo. The concept of captivating the eye with the presentation of the petrol stations while the most incredible stories are blown into your ears worked, at least for Harald.

Auf einem anschließenden Stadtspaziergang durch das samstäglich bevölkerte Stuttgart könnten wir dann unsere Eindrücke verdauen und mit unseren sonstigen Seh-Erfahrungen in Zusammenhang bringen. Möglicherweise (man wird es sehen) ist bei dieser Gelegenheit auch ein photographisches Projekt geboren worden, dass die drei Protagonisten demnächst nicht nur als Rezipienten, sondern auch als Produzenten von Bildern zeigen wird.

Was ein zweiter Blick in den Katalog dem Verständnis hinzufügen kann, über das hinaus, was wir uns während des Ausstellungsbesuches so zusammengereimt haben, sind Referenzen, die man nicht so einfach aus seinem Allgemeinwissen schöpfen kann, wie z.B. dass sich die Arbeit von Andrzej Steinbach auf eine soziologische Theorie von Ulrich Bröckling und den daran anknüpfenden Diskurs bezieht.

Ich schließe mit einem Zitat aus dem Katalog:

 „Zu diskutieren, ob Bilder ‚wahr‘ sind, ist gleichwohl ebenfalls müßig, wie ästhetische Maßstäbe für die Wahrheit zu postulieren. Ungleich diskutabler ist, wie Bilder `wahr genommen´ werden.“

Stephanie Bremerich: Durch die vierte Wand, 2013

On a subsequent walk through the city of Stuttgart on Saturday, we could then digest our impressions and relate them to our other visual experiences. Perhaps (we will see) a photographic project will also be born on this occasion that will soon show the three protagonists not only as recipients but also as producers of images.

What a second glance at the catalogue can add to our understanding, beyond what we were able to put together during our visit to the exhibition, are references that we cannot simply draw from our general knowledge, such as the fact that Andrzej Steinbach’s work refers to a sociological theory by Ulrich Bröckling  and the discourse that ties in with it.

I will conclude with a quote from the catalogue:

“Discussing whether images are “true” is nonetheless just as pointless as postulating aesthetic standards for truth. Much more debatable is how images are ‘percieved (taken to be true)’.”

Stephanie Bremerich: Through the fourth wall, 2013

7 Comments

  1. Harald S.

    Der Besuch der Ausstellung war eine Übung im Sinne der Aussage von Joseph Beuys, dass jeder Mensch ein Künstler sei: Der Betrachter hat den gleichen Anteil an der Erzeugung des Kunstwerks wie der Autor selbst.

  2. juergenkuester

    Liebe Ute!
    Spannend, wirklich spannend, und auch sehr informativ, was Du da als Zusammenfassung zu Eurem Ausstellungsbesuch geschrieben hast. Ich habe mich mal durchgearbeitet, auch und gerade durch die beigefügten Links, und werde am Wochenende noch ein zweites Mal nachfassen.
    Euer Besuch, so scheint es mir, war harte Arbeit und erforderte wohl sehr viel Aufarbeitung von Informationen. Bewundernswert! War es denn inspirierend? Ich beneide Dich ein wenig um die Existenz und die Mitgliedschaft in einem Photoclub. Liebe Grüße
    Jürgen

    • Rolf Noe

      Hallo Jürgen, es sei dir vergeben, dass du mich umbenannt und auch noch geschlechtsumgewandelt hast. Ja der Besuch war inspirierend, einmal in dem Sinne, dass er die Sehgewohnheiten herausgefordert hat und zum zweiten, weil er Anregungen gebracht hat, wie man sinnerfüllt photographieren kann. Um den Photoclub brauchst du mich nicht zu beneiden. Es ist viel Arbeit, so einen Club zu pflegen, damit er auch einen angenehmen Austausch ermöglicht. Aber es ist nichts was man so vorfindet wie man es gern hätte, sondern etwas was man mitgestalten muss, damit es so wird, dass man sich darin wohlfühlt. Such dir ein paar Leute und fangt an euch auszutauschen, vielleicht wird ja was draus.

  3. kopfundgestalt

    Ich war kürzlich nach dem besuch der schirn (Akomfrah und Feininger) noch im MMK nebenan.
    Selbsterklärend schien mir das meiste nicht, roch nach Banalität. Hätte es die Schirn zuvor nicht gegeben, hätte man versucht, das eine oder andere zu verstehen. Wir du ja in einem guten Beispiel andeutetest, bedarf es Wissen und Studium, um ein einzelnes werk angemessen einzuordnen. So wird dann eine Ausstellung nachmittagsfüllend!

      • kopfundgestalt

        Oft steckt ja gehörig Gehirnschmalz hinter den Objekten. Der Rezipient ist oft überfordert, den Kern des Gemeinten zu entdecken. Dazu können Erklär-Hilfen sehr zweckdienlich sein.,

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