Menu Close

Truth Table

Das Sprengel ist inzwischen fast schon ein Standard-Anlaufplatz für mich geworden, wenn ich auf dem Weg nach Norden noch ein wenig Photo-Kunst mitnehmen will. So auch an Weihnachten 2023. Eigentlich hatte mich die Ausstellung über die klassische Moderne der Photographie gelockt, die Stefan Gronert sehr lehrreich zusammengestellt hat und die noch bis zum 5.02.24 dort zu sehen ist. Die Moderne ist, wenn man sie von den überlieferten Werken her betrachtet, wie Gronert  selbst kritisch anmerkt, eine vorwiegend männliche Angelegenheit. Vielleicht kann ich in einem anderen Zusammenhang noch einmal darauf zu sprechen kommen. Dann war noch die Rede von einer Photoserie namens “Mont Ventoux”, was ich auch spannend fand, weil ich bisher nichts darüber Christian Retschlag wusste. Seine Bilder wurden in dem kleinen Kunstraum im Erdgeschoss gezeigt und kamen mir vor wie eine ganz andere Art von Photographie, sehr subjektiv und mir nicht unmittelbar zugänglich. Zumindest so viel konnte ich verstehen, dass es nämlich nicht (nur) um die äußere, sondern auch um eine innere Reise geht, wobei der `Mont Ventoux´ möglicherweise so etwas wie die “Montana Sacra“ von Jodorovsky vorstellt.

Gar nicht auf der Pfanne hatte ich die dritte Ausstellung oben gleich neben dem derzeitigen provisorischen Eingang. Anlass ist wohl die Verleihung des internationalen Spectrum Preises für Fotografie der Stiftung Niedersachsen an Adrian Sauer. Das Sprengel Museum hat diese Gelegenheit genutzt, um eine Art Übersicht über sein bisheriges Werk in Szene zu setzen. Es ist schon eigenartig, weil man von der Photographie erwartet, dass etwas dargestellt wird, aber das ist hier nicht der Fall. Es geht um die Photographie selbst. Sie ist das große Thema, das Sauer in seinen Bildern umkreist. Er steht in der Tradition der bildanalytischen Photographie und hat bei Tim Rautert studiert, über den ich noch viel zu wenig  geschrieben habe.

Es beginn scheinbar ganz gewöhnlich mit einer umfangreichen Serie kleinformatiger, wohl analog aufgenommener Bilder aus dem Berlin der neunziger Jahre. Die Serie heißt `Kulisse´ und zeigt Berlin menschenleer, eben als Kulisse gewaltiger Veränderungen. Aber schon in der zweiten Serie steht man davor und fragt sich, warum die darauf abgebildeten recht gewöhnlichen Objekte `Treppe´, `Ziegel´, `Heizung´, `Lampe´ und `Fenster´so künstlich wirken. Die Serie, aus der die Bilder stammen, heißt `No/Photography´ aber es bedarf nicht des Titels, um sich zu fragen, ob diese alltäglichen, ästhetisch wenig ansprechenden Bilder hyperrealistisch gemalt, übertrieben photographiert oder gar komplett generiert sind. Wir erfahren immerhin, dass es sich um Farbabzüge handelt, aber das beantwortet uns nicht die Frage der Bildentstehung. Damit sind wir im Digitalen angekommen. Es sind Pixel und denen sieht man nicht an, wo sie herkommen, wie sie sich in diesem Bild zusammengefunden haben.

The Sprengel has almost become a standard port of call for me when I want to pick up some photographic art on my way north. This was also the case at Christmas 2023. I was actually attracted by the exhibition on classic modern photography, which Stefan Gronert has put together in a very informative way and which can still be seen there until February 5th, 2024. Modernism, if you look at it from the perspective of the works that have survived, it is, as Gronert himself critically notes, a predominantly male affair. Perhaps I can come back to this in another context. Then there was talk of a photo series called “Mont Ventoux”, which I also found exciting because I didn’t know anything about Christian Retschlag before. His pictures were shown in the small art room on the first floor and struck me as a completely different kind of photography, very subjective and not immediately accessible to me. At least this much I could understand, namely that it is not (only) about the outer, but also about an inner journey, whereby the ‘Mont Ventoux’ possibly represents something like the “Montana Sacra” by Jodorovsky.


I hadn’t even considered the third exhibition upstairs, right next to the current temporary entrance. The occasion is the awarding of the international Spectrum Prize for Photography by the Lower Saxony Foundation  to Adrian Sauer. The Sprengel Museum has taken this opportunity to stage a kind of overview of his work to date. It’s strange, because you expect photography to depict something, but that’s not the case here. It’s about photography itself. It is the great theme that Sauer circles around in his pictures. He stands in the tradition of image-analytical photography and studied under Tim Rautert, about whom I have written far too little.


It begins in a seemingly ordinary way with an extensive series of small-format, probably analog pictures from Berlin in the nineties. The series is called ‘Backdrop’ and shows Berlin deserted, as a backdrop to enormous changes. But already in the second series, one stands in front of it and wonders why the rather ordinary objects depicted are ‘stairs’, ‘bricks’, ‘heating’, ‘lamps’ and ‘windows’ look so unnatural. The series from which the pictures originate is called ‘No/Photography’, but it does not need the title to wonder whether these everyday, aesthetically unappealing pictures are hyper-realistically painted, exaggeratedly photographed or even completely generated. At least we learn that they are colour prints, but that does not answer the question of how the images were created. This brings us to the digital. They are pixels, and you can’t tell where they come from, how they have come together in this picture.

Der Frage der Komponenten digitaler Bilder geht Sauer so tief auf den Grund, dass er beim einzelnen Farbpixel landet. Er hat eine ganze Reihe von Bildern erstellt, die alle 16.777.216 Farben der digitalen Welt enthalten, und die genau mit je einem Pixel in den Bildern vertreten sind. Einmal als Farbverlauf, dann als getrennte Farbeindrücke oder als graue Fläche und einmal auf der Truth Table als ein grüner Smiley. Das ist nochmal ein schönes Beispiel, wie der Unterschied zwischen Farbwirklichkeit (je ein Pixel von jeder Farbe) und Farbeindruck (eine farbige/graue Fläche, ein Farbverlauf, ein Smiley), von dem ich in meinem letzten Beitrag sprach, verdeutlicht werden kann. Hier eben mit den Mitteln des digitalen Bildes.

Sauer delves so deeply into the question of the components of digital images that he ends up with the individual color pixel. He has created a whole series of images that contain all 16,777,216 colors of the digital world, each of which is represented by exactly one pixel in the images. Once as a color gradient, then as separate color impressions or as a grey area and once on the truth table as a green smiley. This is another nice example of how the difference between color reality (one pixel of each color) and color impression (a colored/gray area, a color gradient, a smiley), which I talked about in my last post, can be clarified. In this case, with the means of the digital image.

Manch einer wird jetzt schon die Nase rümpfen und sich fragen, was an diesen konzeptionellen Bilderwelten attraktiv sein soll, aber für mich sind es diejenigen Bilder die eben nicht nur auf ästhetische, sondern auch auf intellektuelle Anregung angelegt sind und da steh ich eben drauf. Allerdings muss für meinen Geschmack auch ein wenig Humor dabei sein und den finden wir auch. Wenn er z-B. mit seiner Serie `Unboxing Photoshop´ indirekt auf die immer weiter schwindende Materialität der Tools des Bilderhandwerks referiert oder mit `LEICA M9-P >>Edition Hermès<< Série Limitée Jean-Louis Dumas´ auf deren Fetischisierung. Einigermaßen fassungslos steht man vor der Serie `A-Z (Brockhaus)´, die aus den Abbildern von achtunddreißig leeren Pappschachteln besteht, die die letzte materielle Ausgabe der `Brockhaus Enzyklopädie´ enthalten haben. Auch dieses Wissen hat die Sphäre des Materiellen verlassen und sich ins Digitale verflüchtigt. Einerseits hat man den Glauben des 19ten und 20ten Jahrhunderts, man könne alles Wissen zwischen Buchdeckeln einfangen aufgegeben andererseits rennt man diesem Ideal im Netz immer noch mit raushängender Zunge hinterher.

Am Schluss noch ein Wort zur `Truth Table´, die der Ausstellung den Titel leiht und neu zu sein scheint (2023), weil sie auf der Homepage noch nicht auftaucht. Diese Wahrheitstabelle wird entsprechend ihrem englischen Titel auf einem sehr großen niedrigen Tisch präsentiert. Sauer versucht die Idee, dass alle möglichen Kombinationen der Zahlen 0 und 1 in einer Tabelle dargestellt werden könnten. Alle ausgelegten Bilder enthalten wieder alle 16 Millionen Farben in zum Teil systematischer (Dunkles Gitter mit 1 bis 128 Quadraten) zum Teil aber auch freier Anordnung, nämlich z.B. dem Smiley und an Photographien erinnernden Bildern, wo die Pixel dem Motiv folgend angeordnet sind (s.u.). Da wird es einem schon bei dem Gedanken schwindelig. Dazu kommt noch eine Vier Kanal Audio Installation, die einem unablässig in die Ohren kriecht und im Wesentlichen die Idee von der viergestaltigen Wahrheit an Sätzen über die Photographie durchdekliniert (Ein Bild kann etwas darstellen/Ein Bild kann nichts darstellen/Kein Bild kann etwas darstellen/ Kein Bild kann nichts darstellen). Verwirrung aushalten, um zur Klarheit durchzudringen, das könnte ein Ergebnis dieses Ausstellungsbesuchs sein.

Some people will now turn up their noses and ask themselves what is supposed to be attractive about these conceptual picture worlds, but for me it’s the pictures that are designed not only for aesthetic but also for intellectual stimulation and that’s what I like. However, for my taste there also has to be a little humor and we find that too. For example, in his series ‘Unboxing Photoshop’, he refers indirectly to the ever-dwindling materiality of the tools of the photographic trade, or in ‘Leica M9-P >>Edition Hermès<< Série Limitée Jean-Louis Dumas’ to their fetishization. One is somewhat stunned by the series ‘A-Z (Brockhaus)’, which consists of images of thirty-eight empty cardboard boxes containing the last material edition of the ‘Brockhaus Encyclopaedia’. This knowledge has also left the sphere of the material and evaporated into the digital. On the one hand, we have given up the belief of the 19th and 20th centuries that we could capture all knowledge between the covers of a book, but on the other, we are still chasing after this ideal on the Internet with our tongues hanging out.
Finally, a word about the ‘Truth Table’, which lends the exhibition its title and seems to be new (2023) because it does not yet appear on the homepage. This truth table is presented on a very large, low table, in keeping with its English title. Sauer attempts the idea that all possible combinations of the numbers 0 and 1 could be presented in a table. All the images on display again contain all 16 million colours in a partly systematic (dark grid with 1 to 128 squares) and partly free arrangement, e.g. the smiley and images reminiscent of photographs, where the pixels are arranged according to the motif (see below). It makes you dizzy just thinking about it. In addition, there is a four-channel audio installation that incessantly creeps into your ears and essentially goes through the idea of the fourfold truth in sentences about photography (A picture can represent something/A picture can represent nothing/No picture can represent something/No picture can represent nothing). Enduring confusion in order to penetrate clarity could be one result of this exhibition visit.


Translated with the help of www.DeepL.com/Translator

4 Comments

  1. Michael

    „Verwirrung aushalten, um zur Klarheit durchzudringen….“
    Mir drängt sich eine andere „Erkenntnis“ in den Vordergrund: Klarheit ist eine Illusion, es gibt sie nicht. Wahrscheinlich ist es ein ewiges, menschliches Übungsfeld, ohne sie zurechtzukommen (natürlich nur, wenn es bewusst wird).
    Hier kommt mir eine Parallele zu unserer kleinen Photo-Diskussionsexkursion über „was fehlt denn da?“ in den Sinn. Auf einer Photographie fehlt ja nie etwas, auch eine Illusion. Es fehlt immer nur etwas, wenn ich es mit einem Ideal (einem eingebrannten Muster in Hirn/Verstand?) vergleiche.
    Liebe Grüße und , bis dann

    • Rolf Noe

      Ja, das klingt erst mal paradox, aber wie Du so schön sagst. Der Welt fehlt nix.
      Uns fehlt es an Offenheit und Ambiguitätstoleranz um das Leben so zu sehen wie es nun mal ist,
      widersprüchlich, chaotisch, und dauernd im Wandel. Wir legen immer die Messlatte unseres kleinen
      Verstandes an und wundern uns, dass sich die Welt nicht zu und hinabbeugt, um sich unseren unzulänglichen Kategorien anzupassen.
      Das zu sehen, verstehe ich unter Klarheit.

Leave a Comment / Schreib einen Kommentar

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.