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Order 7161

Es gibt Bücher, die kann man nicht einfach lesen. Man muss sich ihnen annähern, weil sie einem sonst zu nahe gehen würden. So geht es mir mit Marc Schröders “Order 7161”, das bei der `Eriskay Connection´ erschienen ist. Es rührt an den Wurzeln, es erinnert mich an meine Herkunft und es betrifft ein Trauma, dass nur mittelbar mit mir, aber unmittelbar mit dem Zweiten Weltkrieg bzw. seinen Folgen zu tun hat und in Form von Erzählungen auf meine Generation übertragen wurde. Das Buch handelt von den Auswirkungen von Stalins Befehl, all diejenigen auf dem Balkan zu deportieren und zur Zwangsarbeit zu verpflichten, die mit Hitler sympathisiert oder für ihn gekämpft hatten. Infolgedessen wurden allein aus Rumänien 70.000 Deutsche (im Übrigen unabhängig davon, ob sie wirklich mit Hitler sympathisiert hatten) deportiert, in Eisenbahnwagons geladen und in Arbeitslager in der Sowjetunion gebracht. Dort sollten Sie beim Aufbau des Kommunismus und bei der Beseitigung der Kriegsfolgen behilflich sein. Das Buch besteht aus Interviews mit Betroffenen und Bildern, die die uralten Zeitzeugen zeigen und versuchen das Unvorstellbare zu illustrieren. Das Buch kommt auf den letzten Drücker, da es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird.

There are books that you can’t just read. You have to approach them because otherwise they would get too close to you. That’s how I feel about Marc Schröder’s “Order 7161”, published by the `Eriskay Connection’. It touches my roots, it reminds me of my origins, and it deals with a trauma that is only indirectly related to me but directly to the Second World War and its consequences and was passed on to my generation in the form of stories. The book is about the effects of Stalin’s order to deport all those in the Balkans who had sympathized with Hitler or fought for him and put them into forced labour. As a result, 70,000 Germans from Romania alone (regardless of whether they had actually sympathized with Hitler) were deported, loaded into railroad wagons and taken to labour camps in the Soviet Union. There they were to help build communism and eliminate the consequences of the war. The book consists of interviews with those affected and pictures that show the age-old witnesses and attempt to illustrate the unimaginable. The book comes at the last minute, as there will soon be no more contemporary witnesses.

Schröders Buch hat beim Deutschen Fotobuchpreis im November 2023 eine Goldmedaille bekommen /            Schröder’s book won a gold medal at the German Photo Book Award in November 2023

Meine Mutter, die damals zu jung war, um “mitgenommen” zu werden, ist jetzt bald 93. Gleich am Anfang treffen sich die Dokumentation und die individuelle Erzählung. In vielen Interviews geht es darum, dass wenn jemand versucht hat, sich zu verstecken, einfach jemand anders mitgenommen wurde. Meine Mutter erzählt, ihr großer Bruder sei eigentlich noch zu jung gewesen, um mitgenommen zu werden. Weil aber der Direktor seiner Schule seinen Sohn und eventuell auch noch andere von der Liste genommen hatte, hat es ihn dann getroffen. Um diesen Teil der Geschichte kurz zu halten, der Bruder ist nie zurückgekommen. Wahrscheinlich hat er die schwere Arbeit im Lager nicht überlebt oder ist an einer der grassierenden Krankheiten gestorben.

My mother, who was too young to be “taken away” at the time, will soon be 93. The documentary and the individual narrative meet right at the beginning. Many of the interviews talk about how when someone tried to hide, someone else was simply taken away. My mother says that her older brother was actually still too young to be taken away. But because the principal of his school had taken his son and possibly others off the list, he was taken. To keep this part of the story short, the brother never came back. He probably didn’t survive the hard labour in the camp, or died of one of the rampant diseases.

Im Buch von Mark Schröder werden in anonymisierten Interviews die einzelnen Schritte dieser schrecklichen Reise deutlich. Manche lebten vier Wochen lang in Eisenbahn-Waggons, die eigentlich für den Viehtransport bestimmt waren. Manche hatten Nahrung dabei, manche nicht, getrunken wurde geschmolzener Schnee oder Wasser aus der Lokomotive. Angekommen in den Lagern, geht die Tortur erst wirklich los. Wenn Prominente wie Nawalny heute in Lagern sterben, erfährt es die ganze Welt. Bei diesen Deportierten sind es nur wenige, Daheimgebliebene, die die Abwesenheit ihrer Lieben in eine quälende Ungewissheit stürzt, die nach und nach in Trauer übergeht, denn nur wenige haben das Glück, von später Heimkehrenden, zu erfahren, was mit ihren Verwandten oder Geliebten passiert ist.

Wenn man die Berichte der Zeitzeugen liest, merkt man, wie unterschiedlich die Bedingungen in den Lagern waren. Durchgängiges Thema ist der Hunger, die unzureichende Versorgung mit Nahrung. Durchgängig ist auch bis auf wenige Ausnahmen, dass die Russen, die die Lager und die Arbeit zu beaufsichtigten hatten, meist freundlich waren und es ihnen in den meisten Fällen nicht viel besser ging als den Deportierten. Durchgängig ist auch, dass viele sterben an Auszehrung, an Typhus oder einer Lebensmittelvergiftung, da vieles gegessen wurde, was eigentlich nicht dazu gedacht war.

Die Erzählungen, so viele Jahre später haben was Anekdotisches, aber sie enthalten eine Vielzahl von Details, die man sich nicht ausdenken kann, z.B. das in den ersten Jahren Kälte und Hunger der einzige Lohn waren, dass aber später theoretisch Rubel ausbezahlt wurden, von denen aber nach Abzug der Kosten für Essen und Kleidung oft nichts mehr übrig war.

Ich will das hier nicht breittreten und das Letzte, was ich will, ist die Gräueltaten, die zur gleichen Zeit in Deutschland aufgedeckt wurden zu relativieren. Es geht mir vielmehr darum, deutlich zu machen, dass jede Ideologie letztlich im Schatten ihrer glorreichen Utopien eine Spur des Unheils hinterlässt. Hitler, Stalin, Mao stehen für Faschismus, Kommunismus und Maoismus, aber auch die USA haben die dort lebenden Japaner in Lager gesteckt und auch der Humanismus, als Ideologie, erzeugt zunehmend Opfer und das sind, wen wundert’s, wie überall die Andersdenkenden. Frieden wird nicht möglich sein, so lange wie wir in Kategorien von „Wir und die Anderen“ denken und danach handeln.

In Mark Schröder’s book, anonymized interviews reveal the individual steps of this terrible journey. Some lived for four weeks in railroad cars that were actually intended for transporting livestock. Some had food with them, some did not; they drank melted snow or water from the locomotive. Once they arrived in the camps, the ordeal really began. When celebrities like Navalny die in camps today, the whole world hears about it. For only a few of these deportees, those who stayed at home, are plunged into an agonizing uncertainty by the absence of their loved ones, which gradually turns into grief, because only a few are lucky enough to find out what happened to their relatives or loved ones from those who return home later.

When you read the accounts of contemporary witnesses, you realize how different the conditions in the camps were. A consistent theme is hunger and the inadequate supply of food. What is also consistent, with a few exceptions, is that the Russians who had to supervise the camps and the work were mostly friendly and in most cases they were not much better off than the deportees. It is also consistent that many died of emaciation, typhus or food poisoning, as many things were eaten that were not actually intended to be eaten.

The stories, so many years later, are anecdotal, but they contain a multitude of details that you can’t make up, e.g. that in the early years cold and hunger were the only wages, but that later, in theory, roubles were paid out, but after deducting the cost of food and clothing, there was often nothing left.

I don’t want to belabour the point here, and the last thing I want to do is relativize the atrocities that were uncovered in Germany at the same time. Rather, I want to make it clear that every ideology ultimately leaves a trail of disaster in the shadow of its glorious utopias. Hitler, Stalin and Mao stand for Fascism, Communism and Maoism, but the USA also put the Japanese living there into camps and humanism, as an ideology, is also increasingly creating victims and, as everywhere else, these are the dissenters. Peace will not be possible as long as we think and act in categories of “us and them”.

Illustration aus der deutschen Übersetzung von / Illustration from the german translation of:                                     „Lungul drum spre nicaieri“ von Lavina Betea etal 2012

4 Comments

  1. Cornelia

    Lieber Rolf, ich habe diesen Blog lange stehen lassen, weil er ein Thema aufgreift, das mir auch wichtig ist. Mein Vater kommt aus Schlesien, die Familie wurde 1946 vertrieben – das ging systematisch Straße für Straße, man konnte das mitnehmen, was man tragen konnte. Die Zugfahrt – ich weiß nicht, ob es Viehwagen waren – war unberechenbar mit Aufenthalten, die Minuten oder Tage dauern konnten. Es gab wenigstens keine Lebensgefahr mehr. Aber sich ein Jahr lang mit der russischen Besatzung zu arrangieren hatte seine Probleme und war nicht ungefährlich. Meine Tanten haben mir davon erzählt. Ich finde es wichtig, dass sowas zur Sprache kommt, es geht um kein Aufrechnen oder Bewerten, denn was traumatisch war und nicht verarbeitet werden konnte, wird an die nächste Generation weitergegeben.

    • Rolf Noe

      Ja, ich hab auch lange gebraucht, um mich dem anzunähern und ich bin dem Thema auch nicht ganz auf den Grund gegangen, sondern hab es nur soweit angeritzt, wie es mir erträglich war. Wenn es sich weiter entwickelt gut, wenn nicht, hab ich es zumindest mal angesprochen. LG

  2. Horst

    Es ist gut, dass in jüngerer Zeit vermehrt Bücher erscheinen, die sich in ganz unterschiedlicher Weise mit den Schreckensjahren um den 2. Weltkrieg herum befassen. Eigentlich müsste man sie zur Pflichtlektüre machen aber das ist nur ein erster, nutzloser Gedanke. Ein lateinisches Sprichwort besagt: “Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.” Das hat das arme Tier nicht verdient.

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