In der Einleitung zu seinem neuen Buch “Modern Instances” The Craft of Photography. A Memoir verweist Stephen Shore auf sein Buch zur Photographie, das 2009 unter dem Titel “Das Wesen der Photographie” Ein Elementarbuch auf Deutsch erschienen ist. Denn da wurden bereits ganz grundlegende Dinge geklärt.
Zuerst wird dort unterschieden zwischen der materiellen Ebene (das Foto als Objekt, das wir in der Hand halten oder das an der Wand hängt bzw. auf dem Bildschirm aufleuchtet), dann der darstellenden Ebene, die
- das Dreidimensionale in das Flache überführt,
- aus dem Sichtbaren einen Ausschnitt auswählt,
- ein Zeitpunkt aus dem Zeitstrom pflückt und
- auf ein Objekt oder eine Ebene in der Tiefe des Raumes fokussiert.
Diese vier Kriterien bestimmen den Bildinhalt und seine Struktur. Sie stellen so Shore die visuelle Grammatik der Photographie dar. Jeder dieser vier Grundmodi der Darstellung enthält natürlich auch eine ganze Anzahl an Möglichkeiten der Gestaltung.
Wenn man Tiefe in ein Bild bringen will, muss man mit der Relation von Vorder- und Hintergrund oder opaken und transparenten Ebenen arbeiten oder über die Ordnung, die Struktur des Bildes den Eindruck von Tiefe erzeugen.
Die Wahl des Ausschnitts bestimmt nicht nur den Inhalt des Bildes, sondern bringt auch die Ränder des Bildes mit den Linien und Formen des Bildes in Beziehung. Shore unterscheidet einen passiven Ausschnitt, eine offene Komposition, in der alles eingebettet ist und einen aktiven Ausschnitt, in der die Strukturen mit den Rändern in Beziehung treten und eine geschlossene Komposition herstellen.
Was die Zeit angeht, ist der Gestaltungsspielraum zum einen von der Belichtungsdauer abhängig, sodass das Bild ein statischen oder dynamischen Ausschnitt aus dem Zeitstrom visualisiert. Bewegung wird scharf angehalten oder unscharf visualisiert. Zu welchem Zeitpunkt ein Bild entstanden ist, zeigt es selbst nur, wenn der Fotograf etwas ins Bild einschließt, woraus der Betrachter dies sich wieder rekonstruieren kann (eine Uhr an der Wand, eine Zeitung auf dem Tisch etc.) “Vorher / nachher – Beziehungen“ kann man mit zwei oder manchmal auch mit einem Bild verdeutlichen.
Mit dem Fokus schafft der Fotograf eine Hierarchie im Darstellungsraum. Die Photographie hebt in ihrem Schärfebereich Bildinhalte hervor, die beim normalen Sehen nicht geordnet sind.
Die in der deutschen Übersetzung als geistige Ebene betitelte ist für mich schwerer zu fassen. Vielleicht liegt es daran, dass auf diesem Gebiet das Englische und dass die deutsche Sprache inkompatibel sind (Es gibt z.B. keine adäquate Übersetzung des Begriffes „mind“). Zum anderen liegt es vielleicht auch daran, dass dieses die komplexeste Ebene ist. Schließlich geht es hier darum, was für ein geistiges Konstrukt der Fotograf in seinem Bild zu verdeutlichen sucht, gleichzeitig aber auch darum, was ein Betrachter beim Anschauen für Assoziationen, Gedanken oder Gefühle mit dem Bild in Verbindung bringt. Zum Dritten liegt es vielleicht auch daran, dass sich diese Ebene nur sehr schwer systematisch fassen lässt.
In den „Modernen Instances” auf die ich hier nur schlaglichtartig eingehen möchte, versucht Stephen Shore diese Ebene aus der Sicht des Photographen, genauer aus der Sicht des Photographen, der auf seine Entwicklung als Photograph zurückschauen kann, auf assoziative und anekdotische Weise zur Darstellung zu bringen, was dem Thema aus meiner Sicht angemessen ist. Gleich nach der Einleitung und ein paar geistigen Lockerungsübungen beschreibt er anhand seines Erlebens, warum er mit einem seiner berühmtesten Bilder “Intersection of Beverly Boulevard and La Bra Avenue in Los Angeles” unzufrieden war und wie er damit umgegangen ist. Im Erzählen dieser Geschichte bekommt der Leser eine sehr dichte Lektion über das dynamische Verhältnis von Form und Inhalt von Bildern vermittelt, und zwar anhand von Text und Bildmaterial (siehe unten)
Ein Teil des Buches ist aus einem Dialog mit George Miles entstanden, der Stephen Shore als kongenialer Stichwortgeber dient. Auf der Homepage des Verlages ist ein ausführliches Gespräch zwischen den beiden zu sehen.
Ein weiteres Element in dem Buch sind kurze Artikel über Inspirationen, Bilder, Skulpturen, Filme, Menschen, Gebäude, Maler, Gedichte, Landschaften etc., die Stephen Shore in seinem Verständnis davon, was er in seinem Schaffensprozess für Entscheidungen trifft, beeinflusst haben.
Überhaupt geht viel in dem Buch darum, welche Voraussetzungen erforderlich sind, welche Entwicklungsschritte man gemacht haben muss, um in seiner schöpferischen Tätigkeit weiterzukommen. Diese Schritte sind weit schwieriger zu fassen als das Grundhandwerkszeug. Nichtsdestotrotz bauen sie darauf auf. Auf dem Weg zur Meisterschaft sind Schritte zu gehen, die überhaupt nicht mehr mit unseren sprachlichen Mitteln adäquat abgebildet werden können. Hier tut Shore das, was alle Mystiker vor ihm schon getan haben. Er arbeitet mit Metaphern, Vergleichen und Andeutungen. Wohl dem, der aus diesen für sich Wertvolles ableiten kann.
Ich denke, dieses Buch wird mich noch einige Zeit beschäftigen. Mein Tipp für euch: selbst lesen! *
*spätestens, wenn die deutsche Übersetzung erscheint.
In the introduction to his new book “Modern Instances” The Craft of Photography. A Memoir Stephen Shore refers to his book on photography, which was published in German in 2009 under the title “Das Wesen der Fotografie” Ein Elementarbuch. For there, very basic things have already been clarified.
First of all, a distinction is made there between the material level (the photograph as an object that we hold in our hands or that hangs on the wall or lights up on the screen), then the representational level that
- transforms the three-dimensional into the flat,
- selects a section from the visible,
- picks a point in time out of the time stream and
- focuses on an object or a plane in the depth of space.
These four criteria determine the content of the image and its structure. According to Shore, they constitute the visual grammar of photography. Each of these four basic modes of representation, of course, also contains a whole number of possibilities of composition.
If you want to bring depth into a picture, you have to work with the relation of foreground and background or opaque and transparent layers or create the impression of depth through the order, the structure of the picture.
The choice of cropping not only determines the content of the image, but also relates the edges of the image to the lines and shapes of the image. Shore distinguishes between passive cropping, an open composition in which everything is embedded, and active cropping in which the structures relate to the edges and create a closed composition.
As far as time is concerned, the creative scope depends on the one hand on the exposure time, so that the image visualises a static or dynamic section of the time stream. Movement is sharply stopped or blurred. The point in time at which a picture was taken is only shown if the photographer includes something in the picture from which the viewer can reconstruct it (a clock on the wall, a newspaper on the table, etc.). “Before / after relationships” can be clarified with two or sometimes with one picture.
With the focus, the photographer creates a hierarchy in the space of representation. In its focus area, photography emphasises pictorial contents that are not ordered in normal vision.
The one titled spiritual level in the German translation is more difficult for me to grasp. Perhaps this is because the English and German languages are incompatible in this area (there is no adequate translation of the term “mind”, for example). On the other hand, perhaps it is also because this is the most complex level. After all, it is about what kind of mental construct the photographer is trying to illustrate in his picture, but at the same time it is also about what kind of associations, thoughts or feelings a viewer associates with the picture when looking at it. Thirdly, it is perhaps also because this level is very difficult to grasp systematically.
In “Modern Instances”, which I would only like to touch on here, Stephen Shore tries to present this level from the photographer’s point of view, or more precisely from the point of view of the photographer who can look back on his development as a photographer in an associative and anecdotal way, which is appropriate to the subject in my view. Immediately after the introduction and a few mental relaxation exercises, he uses his experience to describe why he was dissatisfied with one of his most famous pictures “Intersection of Beverly Boulevard and La Bra Avenue in Los Angeles” and how he dealt with it. In the telling of this story, the reader is taught a very dense lesson about the dynamic relationship between the form and content of images, through text and visuals (see below)
Part of the book is based on a dialogue with George Miles, who serves as a congenial partner for Stephen Shore. A detailed conversation between the two can be seen on the publisher’s homepage.
Another element in the book are short articles about inspirations, pictures, sculptures, films, people, buildings, painters, poems, landscapes etc. that have influenced Stephen Shore in his understanding of the decisions he makes in his creative process.
In general, much of the book is about what prerequisites are necessary, what developmental steps one must have taken in order to progress in one’s creative activity. These steps are far more difficult to grasp than the basic tools. Nevertheless, they build on it. On the way to mastery, there are steps to be taken that can no longer be adequately represented at all by our linguistic means. Here Shore does what all mystics before him have done. He works with metaphors, comparisons and allusions. Good for those who can derive something valuable from them.
I think this book will keep me busy for some time to come. My tip for you: read it yourself!
Translated with www.DeepL.com/Translator
Links das bekannte Bild, mit dem Shore unzufrieden war, als ihm deutlich wurde, dass er Inhalte des 20ten Jahrhunderts mit formalen Mittel aus dem 17ten Jahrhundert darzustellen versucht hat. Rechts das Bild das er später mit anderen formalen Gesichtspunkten von der gleichen Kreuzung machte.
On the left, the well-known picture with which Shore was dissatisfied when it became clear to him that he had tried to represent 20th century content with formal means from the 17th century. On the right, the picture he later made of the same crossroads with other formal points of view.
Ein interessanter Bericht über ein tolles Buch. Regt zum Lesen an. Herzlichen Dank!
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen? Na ja, man kann von viel mehr sprechen, als dem einen oder anderen Irrationalisten lieb ist. Und inwiefern in deinem Stephen-Shore-Text (und bei ihm selbst) von etwas die Rede ist, über das man nicht (klar und deutlich) sprechen könnte, kann ich nicht sehen.
Ich glaube, da hab ich einfach noch eine romantische Ader, die Du Dir schon erfolgreich abtrainiert hast.
Immer wieder staune ich über die theoretischen “Wolkenkuckucksheime”, wie sie der Verweigerung einer grundsätzlichen bedeutungstheoretischen Reflexion geradezu notwendig anzuhängen scheinen.
Unterscheidet man bei Fotos eine Darstellungsebene (was genau ein Fotograf mit einem bestimmten Foto darzustellen beabsichtigt; und wie er dies dann darstellungstechnisch am besten zu realisieren versucht) von einer Verwendungsebene (was ein Fotograf an bildlichen Handlungen – inhaltsvollen, aber auch inhaltslosen – zu tätigen gedenkt (und dann auch tätigt), indem er dieses bestimmte Foto zeigt), dann muss man keine “geistigen Konstrukte” bemühen, um zu erklären, was ein Fotograf tut, indem er seine Fotos zeigt, und wie ein Betrachter das dann auch noch verstehen kann (unbenommen davon, dass er (der Betrachter) sich zudem noch irgendwelchen Assoziationen, Gedanken oder Gefühlen hingeben kann, die ihn beim Foto-Betrachten überkommen (oder auch nicht)).
Es wundert mich ein wenig, dass ausgerechnet Du hier reingrätscht. Dir sollte doch aus dem kreativen Prozess auch als gelebte Erfahrung gegenwärtig sein, dass sich Entscheidungen in diesem Prozess nicht immer rational begründen lassen. Es geschieht einfach. Und auch in der Rezeption von Bildern gibt es absolut irrationale Entscheidungen, die selbst die Entscheider nicht wirklich erklären können. Warum gefällt mir dieses an sich misslungene Bild und das andere perfekt Gestaltete läßt mich kalt.
Man kann Stephen Shore allenfalls vorwerfen, dass er sich nicht an das Gebot des frühen Wittgenstein hält, über das, worüber man nicht sprechen kann, zu schweigen.